Heiner Bielefeldt: Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft
Rezensionen zum Dossier Menschenrechte: Recht auf Pluralismus
In der deutschen Politik und Medienlandschaft flammten in den letzten Jahren immer wieder Debatten über den Bedarf an einer ‚deutschen Leitkultur' und das Scheitern der so genannten multikulturellen Gesellschaft auf. Derartigen Unkenrufen setzt Heiner Bielefeldt in Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft sein Plädoyer für eine Orientierung der Politik an Menschenrechten entgegen. Mit klaren Worten stellt er fest, dass Multikulturalismus eine zwangsläufige Folge des Menschenrechts auf freie Selbstbestimmung sein muss.
Bielefeldt, der als Direktor des Deutschen Institutes für Menschenrechte in Berlin arbeitet, unterstreicht, dass die modernen Menschenrechte nicht allein aus einer europäischen Ideengeschichte resultieren, sondern vielmehr als Ergebnis konflikthaft verlaufender gesellschaftlicher Lernprozesse zu verstehen und damit keineswegs abgeschlossen sind. Laut Bielefeldt führt eine Kritik, die im Universalismus der Menschenrechte ein Überstülpen westlicher Werte auf andere Gesellschaften sieht, zu einer ‚kulturgenetischen Reduktion'. Nicht nur aus interkulturellem Taktgefühl, sondern aus ihrer normativen Überzeugungskraft folge, dass die Bindung der Menschenrechte an eine bestimmte Kultur abgelehnt werden müsse. Die Anerkennung menschenrechtlicher Prinzipien dürfe kein Glaubensbekenntnis für oder eine Anpassung an westliche Wertvorstellungen beinhalten.
Wie die praktische Umsetzung dieser Prinzipien aussehen könnte, verdeutlicht Bielefeldt an vier prägnanten Beispielen: dem islamischen Religionsunterricht, dem Kopftuch in der Schule, der Bekämpfung von Zwangsverheiratung und schließlich den so genannten Einwanderungstests. Während sich beim Thema Zwangsverheiratung zeigt, dass Menschenrechte nicht nur Freiheitsrechte darstellen, sondern auch Grenzen setzen, kann der Autor im Fall der Kopftuch tragenden Lehrerin zu keiner generellen Regelung gelangen. Bielefeldt wägt sorgfältig die divergierenden Positionen ab und plädiert für Entscheidungen im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände und AkteurInnen. Als problematisch hingegen beschreibt er eine Gesetzesgebung wie im Fall Baden-Württembergs, die einerseits das Kopftuch pauschal verbietet, andererseits christliche Symbole wie das Kreuz mit der Begründung einer kulturellen Tradition für zulässig erklärt. Durch die Vermischung von Religion mit dem ungenau definierten Begriff Kultur bestehe die Gefahr, das Prinzip staatlicher Nicht-Identifikation zu unterlaufen. Es könne zudem nicht die Aufgabe einer an Menschenrechten orientierten Politik sein, eine bestimmte 'Leitkultur' zu bewahren. Dank der anschaulichen und ausführlich behandelten Beispiele kann Bielefeldt überzeugend darlegen, dass "eine an Menschenrechten orientierte freiheitliche Gesellschaft [...] immer eine religiös, weltanschaulich und kulturell pluralistische Gesellschaft sein [wird]."
Katrin Dietrich