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Fenster zur Parallelwelt

von Martina Backes, Rosaly Magg, Steffen Schülein (Hrsg.) [iz3w - Verlag, 2006] 224 Seiten, ISBN 3-922263-23-2. Das Buch leider vergriffen. Der Download als pdf-Dateien ist möglich. Sonst schicken wir Ihnen gerne eine CD mit den Dateien.

Reisebilder und Reisegeschichten

Eine Zusammenstellung von Reisegeschichten und Fotos führt über 220 Seiten auf eine imaginäre Reise. Je nach Blickwinkel stellt entweder der Alltag der lokalen Bevölkerung oder die touristische Erfahrungswelt eine mehr oder weniger zugängliche und dadurch fremd erscheinende Welt dar.

Fenster zur Parallelwelt möchte durch die Konfrontation mit anderen, ungewohnten Perspektiven neue Einblicke und Ausblicke auf die komplizierten Beziehungen zwischen TouristInnen und DienstleisterInnen ermöglichen. Romanauszüge und Kurzgeschichten handeln von Begegnungen und Nicht-Begegnungen auf Reisen und von den Erlebnissen an der Grenze der gebuchten Vorstellungswelten.

Die AutorInnen erzählen von Situationen, in denen sich für sie Fenster zur Parallelwelt öffneten, weil sie den Geschehnissen hinter der touristischen Inszenierung ihre Aufmerksamkeit schenkten – oder weil sie touristische Vergnügungswelten und ihre eigene Rolle als TouristIn als widersprüchlich oder sogar abstoßend empfanden. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, die Perspektiven zu wechseln und immer wieder Überraschungen zu erleben.

Das Buch enthält über 20 Geschichten und rund 100 Fotos (davon 16 Seiten in Farbe), unter anderem aus der FernWeh- Ausstellung »Beyond Paradise – Stationen des touristischen Blicks«
von FernWeh – Forum Tourismus & Kritik | iz3w-Verlag 2006
Hg. Martina Backes, Rosaly Magg, Steffen Schülein
224 Seiten, € 15,- ISBN 3-922263-23-2 (zur Zeit sind ganz wenige Restexemplare der printausgabe beim iz3w erhältlich)

Inhaltsübersicht

Editorial: Zwischen den Welten

Vor der Reise. Traumbilder im Fokus
Über Erwartungen | Alain de Botton  
Die grünen Mauern meiner Flüsse | Mary Kingsley
Zufallsprinzip | Katy Gardner |   

Being there. Unterwegs in der Travel Bubble
Auf dem Dach der Welt | Steffen Schülein
Zunge zeigen in Kalkutta | Günter Grass in Indien | Ilja Trojanow
Universität des Lebens | William Sutcliffe

Exotik extrem - Dark tourism
Arme Leute gucken | Christoph Wöhrle
Liebe Touristen, liebe Biertrinker | Christoph Hamann
Bakassi Boys | Michael Obert
Are you experienced? | William Sutcliffe

How much? Begegnung neu belichtet
Where are you from? | Ramona Lenz
The smiling coast | Martina Backes
Essaouira, endlich! | Doris Byer
Sherpa am Mount Everest | Jon Krakauer

Entdecken... erobern... erholen...- (Post-)koloniale Reisebilder
Herz der Finsternis | Rosaly Magg
Mensch Meyer | Christoph Hamann
Frisch verbuscht | Martina Backes

Tourismus & Migration - Performing the border
Der Fluss dazwischen | Steffen Schülein
Booze Cruise | Martina Backes
Kellnern in Rethymnon | Ramona Lenz | Interview

Nach der Reise - Retouchierte Idylle, archivierte Erinnerungen
Think Pink | (Pico Iyer
Can I be a Jamaican, please? | Kwame Dawes
Schreiben Sie so über Afrika! | Binyavanga Wainaina

Editorial

Zwischen den Welten

Tagsüber von neun bis fünf arbeitet er als Postmann in einer niederländischen Großstadt, ab sechs Uhr abends kontrolliert er Studentenausweise in einem Sportzentrum. Das Wochenende verbringt Moses häufig in Belgien, als Kajakfahrer leitet er Bootstouren in den Ardennen. Von Mitte Juni bis Ende August führt der 35-jährige Abenteuerreisende über die Stromschnellen des Zambezi unterhalb der Viktoria Fälle. Für zwei Monate im Jahr besucht der gebürtige Sambier hier seine Familie, die in einem Dorf nahe der spektakulären Schlucht liegt.

Als kleiner Junge rannte Moses den Trucks mit den TouristInnen hinterher, die hier auf der Rückkehr von ihrer Zambezi-Tagestour vorbeifuhren. Als junger Mann trug er tageweise die Boote der ausländischen Veranstalter aus der steilen Schlucht hinaus. Wegen des geringen Verdienstes wurde er zum Gespött des Dorfes, gute Zukunftsaussichten konnte sich niemand vorstellen. Als sich über die Jahre eine Vertrauensbasis zwischen Moses und seinem Chef bildete, bot dieser ihm eine Ausbildung als Raftguide an - ein Job, der bis dahin den weißen Immigranten aus Europa und Südafrika vorbehalten war. Trainingsaufenthalte in den USA, in Australien und in Costa Rica waren die ersten Auslandserfahrungen, dann wurde Moses einer der ersten schwarzen Raftguides auf dem Zambezi. Inzwischen hat er in Österreich für ein deutsches Unternehmen die Alpenflüsse befahren. Seine niederländische Frau hat er vor einigen Jahren in Sambia bei einer Bootsfahrt auf dem Fluss kennen gelernt.

as Aussehen des Dorfes hat sich seit seiner Kindheit kaum gewandelt: Lehmhütten mit Strohdächern inmitten einer trockenen Savannenlandschaft, in der die Elefanten regelmäßig die Ernte platt trampeln. Es gibt kein öffentliches Transportwesen, kaum Wasser, nur eine kleine Grundschule, keine Gesundheitsstation, nicht einmal ein Kiosk, nur ein Fußballfeld für die Kinder. Wenn der Truck des Adventure-Unternehmens hier nachmittags für eine halbe Minute hält, weil die Träger abspringen, machen die TouristInnen von ihren Hochsitzen aus Fotos von der Dorfszenerie.

Das globalisierte Milieu, in dem viele der (Ex-)DorfbewohnerInnen leben, und die ökonomischen und materiellen Verflechtungen, die sich daraus ergeben, sind den Lehmhütten auf den ersten Blick nicht anzusehen. Immer noch laufen die kleinen Jungs zum Truck mit den vorbeifahrenden TouristInnen, und immer noch arbeiten die jungen Männer aus dem Dorf als Träger, vornehmlich diejenigen, die nicht Schwimmen können und kein Englisch sprechen. Nur einige wenige haben die Chance, zum Guide aufzusteigen. Moses pendelt zwischen den Welten. Er ist ein Idol für die Jugendlichen im Dorf. Die einheimischen Kollegen fragen ihn, wie er es anstellt, von den Weißen respektiert zu werden. Und die Dorfältesten argwöhnen, dass er sich inzwischen lieber mit den Weißen trifft als mit seinen ehemaligen Schulfreunden im Dorf.

Dem touristischen Blick bleiben diese Nuancen oftmals verborgen. Die unterschiedlichen Lebensgeschichten und die vielfältigen interkulturellen Erfahrungen der DienstleisterInnen, die flugs zwischen den kulturellen Standards der Herkunftsländer der TouristInnen und ihren eigenen unterschiedlichen Lebenswelten hin- und herwechseln können, werden selten erkannt. Viele TouristInnen bleiben stattdessen einem Afrikabild verhaftet, das aus exotischen Tierwelten, primitivem Leben in der Wildnis und dadurch vor allem aus eigenen Entdecker- und Abenteurermythen besteht.

Erst die Familiengeschichte von Moses offenbart, wie globalisiert das Milieu ist, in dem die DorfbewohnerInnen leben. Der jetzt 78-jährige Vater war, nach mehreren Jahren Arbeit in Südafrika, als Koch in der Küche des staatlichen Hotel Interkontinental in Sambia tätig. Die Schwester arbeitet als Rezeptionistin in einer Mittelklasse-Lodge in der Stadt. Ein Bruder ist Träger und wartet seit nunmehr sechs Jahren auf die Chance, auch einmal eines der Boote fahren zu dürfen, die er täglich für zwei Dollar pro Tour in die Schlucht und wieder hoch trägt. Zwei andere Brüder haben es inzwischen bis zum Raftguide geschafft, einer von ihnen ist sogar in der Schweiz gewesen. Der älteste Bruder verkauft Schnitzfiguren auf einem Souvenirmarkt am Parkeingang zu den Victoria Falls.

Aufgrund der Wirkungsmächtigkeit der touristischen Bilder scheint es keineswegs selbstverständlich, dass die komplexen Realitäten der BewohnerInnen in den Reiseländern wahrgenommen werden. Die Eindrücke werden gefiltert durch vorgefertigte Klischees und Interpretationsmuster, von denen sich niemand leicht lösen kann. Viele der möglichen Eindrücke auf Reisen werden ausgeblendet oder fallen durch, weil sie nicht in das touristische Vorstellungsraster passen.

Das touristische Wissen beeinflusst aber auch den Blick auf MigrantInnen zuhause und anderswo - und die Einordnung dessen, was in der Tagesschau aus fernen Ländern berichtet wird. Der Blick auf den sambischen Postmann in Holland oder den Schlauchbootführer auf dem Alpenfluss wird von den Vorkenntnissen geleitet, die für "Afrika" stehen und die zum Teil erst von der touristischen Bilderwelt erzeugt und vermarktet werden. Hinzu kommt, dass die Perspektiven der beschäftigten DienstleisterInnen, ihre Erwartungen und auch ihr Widerstand, kaum in den Medien repräsentiert sind. Störende oder einfach nur andere Sichtweisen irritieren das Urlaubswissen somit nur selten.

Genau diesen Irritationen des touristischen Blicks sind die Geschichten und Bilder dieses Sammelbandes auf der Spur. Teils ernsthaft, teils ironisch handeln die hier veröffentlichten Romanauszüge und Kurzgeschichten von Begegnungen und Nicht-Begegnungen auf Reisen und von den Erlebnissen an der Grenze der gebuchten Vorstellungswelten. Die AutorInnen erzählen von Situationen, in denen sich für sie Fenster zur Parallelwelt öffneten, weil sie den Geschehnissen hinter der touristischen Inszenierung ihre Aufmerksamkeit schenkten oder sie touristische Vergnügungswelten und ihre eigene Rolle als TouristIn als widersprüchlich oder sogar abstoßend empfanden. Der gewählte Begriff der Parallelwelt ist dabei bewusst mehrdeutig. Je nach Perspektive stellt entweder der Alltag der lokalen Bevölkerung oder die touristische Erfahrungswelt eine nur bedingt zugängliche und dadurch fremd erscheinende Welt dar.

"Fenster zur Parallelwelt" möchte durch die Konfrontation mit anderen, ungewohnten Perspektiven neue Einblicke und Ausblicke auf die komplizierten Beziehungen zwischen TouristInnen und DienstleisterInnen ermöglichen, Wiedererkennungseffekte anregen oder als Spiegelungen einen Blick zurück auf die eigene Bilderwelt über die Fremde werfen. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, die Perspektiven zu wechseln und immer wieder Überraschungen zu erleben.

Die Zusammenstellung von Reisegeschichten und Bildern aus der FernWeh-Wander-Ausstellung "Beyond Paradise" führt auf eine imaginäre Reise über sieben Stationen. Beginnend mit Impressionen aus der (Reise-)Werbung und Reisevorbereitungen wird der Blick auf klassische Reisesituationen gelenkt. Vor Ort gilt die Aufmerksamkeit den Blickfängen der touristischen Parallelwelten, der lokalen Reisewerbung und der Schwierigkeit, als ReisendeR nicht auch immer wieder TouristIn zu sein. Extrem wird die Exotik dort, wo die Schattenseiten des Urlaubs eine nervenkitzelnde, aber kontrollierbare Abwechslung versprechen. Klassische und (post-)koloniale Dienstleistungssituationen gehören zu den Reiseerfahrungen, die gerne romantisiert, touristisch verklärt oder auch völlig ausgeblendet werden - insbesondere die Berührungspunkte zwischen Migration und Tourismus. Die Gegenüberstellung von touristischen Blicken auf die Migration und migrantischen Perspektiven auf Tourismus verdeutlicht, wie verflochten die beiden Mobilitätsphänomene Tourismus und Migration sind. Am Ende schlägt die multikulturelle Bilderflut den Bogen zurück: denn je nach Perspektive ist "nach der Reise" auch wieder "vor der Reise".

Martina Backes · Rosaly Magg · Steffen Schülein FernWeh 2006


Wir möchten allen Verlagen und AutorInnen danken, die uns die hier abgedruckten Reisegeschichten zur Verfügung gestellt haben. Ohne ihre freundliche Abdruckgenehmigung hätte dieses Buch nicht entstehen können! Außerdem gilt unser Dank allen FotografInnen, deren Bilder für die Ausstellung "Beyond Paradise - Stationen des touristischen Blicks" (2005) in diesem Buch abgedruckt sind. Ihr detailreicher und kritischer fotografischer Blick auf die Fremde hat uns dabei geholfen, die vielfältigen Begegnungen auf Reisen in Worte und Bilder zu fassen.

Presse zum Buch "Fenster zur Parallelwelt"

"Das Projekt FernWeh hat es sich zur Aufgabe gemacht, den touristischen Blick zu schärfen, ihn hin und wieder gerne auch zu irritieren. Das Buch ist keine Gebrauchsanweisung im Sinne eines Reiseführers. Keine Hilfestellung für ‚besser reisen', keine Tipps für schneller, billiger, sensationeller. Dieses Reisebuch gibt den Blick frei auf touristische Sehnsüchte, Irrtümer und Albträume, ohne Klischees zu bedienen und ohne Besserwisserei. Fast jede dieser Geschichten dreht sich um die Geschehnisse hinter der touristischen Inszenierung. Das Ergebnis ist animierend - vor einer Reise, nach einer Reise mittendrin. Auch für die, die gar nicht erst wegfahren, sondern ihre Reise überhaupt erst träumen, ist Fenster zur Parallelwelt eine reichhaltige Lektüre."

Badische Zeitung vom 19-7-2006

Fenster zur Parallelwelt
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