Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt
Rezension: Bewegung in der Geschichte
Neben Dipesh Chakrabartys "Provincializing Europe" ist Christopher A. Baylys "The Birth of the Modern World" das wohl meistzitierteste Buch des noch relativ jungen Feldes der Globalgeschichte. Mit ihrer Verflechtungsgeschichte will Global History die relationale Konstituierung der modernen Welt aufzeigen und so Eurozentrismus überwinden. Durch die Betonung von Transnationalität profiliert sich zudem ein historiographischer Paradigmenwechsel: "Was die Sozialgeschichte in den sechziger und siebziger, die Kulturgeschichte in den achtziger und neunziger Jahren war, ist gegenwärtig die Globalgeschichte" schrieb jüngst treffend Jürgen Kocka (in: Merkur 2/08). Auch Bayly hält fest: "Heute sind alle Historiker Universalhistoriker, auch wenn viele sich dessen noch nicht bewusst geworden sind." Seine Untersuchung der Entstehung weltweiter Uniformität im 19. Jahrhundert stellt auf "komplexe Interaktion zwischen politischer Organisation, politischen Ideen und ökonomischer Aktivität" ab.
Die Geburt der modernen Welt hebt mit der Analyse einer plurizentrischen 'archaischen Globalisierung' an. Diese prämodernen Netzwerke gäben neben Herausbildung von Häuslichkeit, Veränderungen in Konsumverhalten und Produktion sowie Ausweitung des Handels die Grundlage der Moderne ab, so wie sie am Übergang zum 19. Jahrhundert entsteht. Der Autor insistiert, dass es sich dabei um globale Phänomene handele, der ökonomische und soziale Kontext ihnen in der westlichen Welt jedoch eine größere kumulative Kraft und Beständigkeit als anderswo verleihe. Zudem trügen Strukturen des Nationalstaates und des öffentlichen Raumes sowie elaborierte Kriegsführungstechniken zur Vorherrschaft Nordamerikas und Westeuropas bei.
Die Revolutionen, die von hier aus 1776/ 1789 ihren Ausgang nehmen, seien insofern von globaler Bedeutung, als ihre Doktrinen in anderen Weltgegenden rezipiert und transformiert würden, "die schon vorher durch globale ideologische Konflikte geprägt waren". Doch nicht nur Emanzipation, sondern auch Vernunft sei ein Konzept, das in seinem Ursprung zwar westlich sein möge, jedoch in spezifischer Art und Weise in der ganzen Welt aufgegriffen und für den eigenen Gebrauch angepasst worden sei. Diese "globale Geistesgeschichte" hat ihr prominentestes Beispiel in der Sklavenrevolution in Haiti, die sich den Revolutionsidealen von Freiheit und Gleichheit verschrieb und die C.L.R. James in "Die schwarzen Jakobiner" so fulminant beschrieben hat.
Zugleich vermag Baylys Ansatz, intellektuelle Dialoge zwischen verschiedenen Weltgegenden zu fassen. Diese waren auch für revolutionäres Denken prägend, etwa den Maoismus, der den aus dem Westen kommenden Marxismus und chinesische Denktradition kompilierte.
Während diese Erkenntnisse sich bereits bei vielen GeistesgeschichtlerInnen herumgesprochen haben, sieht Bayly eine große Schwäche darin, dass oftmals - ökonomische und politische Machtverhältnisse gewichtend - lediglich von der Verbreitung westlichen Denkens ausgegangen werde. Die Geschichte der Wissenschaften zeige jedoch, dass auch 'europäische Ideen' das Ergebnis globaler Interaktion seien. Im Kontext der in den letzten Jahren geführten Universalismus-Debatten stützt "Die Geburt der modernen Welt" also die Position eines 'situierten Universalismus'. So spricht sich Bayly "gegen eine westliche Ausnahmestellung, aber auch gegen einen totalen Relativismus" aus.
Das Aufzeigen globaler Interdependenzen gelingt dem Autor jedoch nicht überall. Dass die 1848er-Bewegung in Westeuropa, der Taiping-Aufstand 1851, das indische Aufbegehren gegen die englische Besatzung 1857-1859 und der amerikanische Bürgerkrieg zwar Konflikte mit lokalen Ursachen seien, jedoch als Teil einer globalen Bewegung wahrgenommen würden, bleibt eine Behauptung.
Stärker ist Baylys Zurückweisung von Modernisierungstheorien. Gegen die Webersche Säkularisierungsthese zeigt der Verfasser, dass die Religionen in der Moderne neue Lebensbereiche erobern und sich konsolidieren können. Auch althergebrachte soziale Hierarchien erwiesen sich bisweilen als durchaus funktional und anpassungsfähig: an Familienstrukturen, Geschlechterverhältnissen, Sklaverei und grundbesitzendem Kleinbauerntum ändere sich im 19. Jahrhundert wenig.
Baylys Anspruch es ist, "Zusammenhänge und Analogien zwischen den Geschichten verschiedener Weltteile zu erläutern und zu untersuchen". Die zentrale Frage ist dabei, ob die Welt des 19. Jahrhunderts als globales Netzwerk beschrieben werden kann, ohne dass die ihm innewohnenden Machtunterschiede vernachlässigt werden. Mit Bayly lässt sich diese Frage bejahen. Doch könnte seine Analyse macht- und herrschaftstheoretisch um einiges präziser sein. Hier rächt sich eine oberflächliche Marx-Rezeption, die zahlreiche Plattitüden verantwortet und Bayly davon abhält, mit einem entwickelten Kapitalismusbegriff zu operieren. Dieses Versäumnis liegt wahrscheinlich genauso in der Verantwortung des Hochschulbetriebs (der Verfasser ist Professor für British Imperial History in Cambridge), wie die letztlich reduzierte nicht-westliche Empirie des Buches. Getreu der Orientierung britischer Akademien wartet "Die Geburt der modernen Welt" mit reichhaltigen Kenntnissen asiatischer, bisweilen auch afrikanischer Geschichte auf, vernachlässigt jedoch Lateinamerika.
Bei der Rezeption von Baylys Manifest ist bisher wenig zur Sprache gekommen, inwiefern seine beeindruckende Kompilation von Sozial-, Kultur-, Wirtschafts-, Wissenschafts-, Religions-, Literatur- und Kunstgeschichte einer kulturalistisch verkürzten Historiographie des Partikularen widerspricht. Wenn etwa in dem Band "Globalisierung und Globalgeschichte" (Gradner et al 2005) behauptet wird, "dass sich das neue Interesse an Globalgeschichte nicht nur den sozio-ökonomischen Ursachen und Folgen der Globalisierung verdankt, sondern auch das Ergebnis eines kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels ist", wird verkannt, dass die neueren Bewegungen in der Geschichtswissenschaft gerade für ein Abebben des Cultural Turn stehen und möglicherweise eine neue Perspektive für materialistische Ansätze eröffnen. Die herrschaftskritische Ausarbeitung von Global History im Sinne eines neuen Internationalismus (besser: eines Kosmopolitismus), zu der es bereits Ansätze gibt (siehe iz3w 278/279), wird weiterhin nicht dem akademischen Betrieb überlassen werden können.
Kolja Lindner