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Deutscher Kolonialismus

Vorwort der Redaktion

Seit der Gründung des informationszentrums 3. Welt (iz3w) im Jahr 1970 war der europäische Kolonialismus in Ländern des globalen Südens ein zentrales Thema. Erst neun Jahre zuvor, 1961, war der Großteil der ehemaligen britischen und französischen Kolonien in Afrika zumindest auf dem Papier unabhängig geworden. In den 1970er Jahren standen neben den jungen dekolonisierten Staaten insbesondere die portugiesische Kolonialherrschaft und der Kampf um die Unabhängigkeit in Mozambique, Angola und Guinea Bissau im Fokus zahlreicher Texte in der iz3w. Seit Beginn der 1990er Jahre widmeten sich anlässlich des 500. Jahrestages der „Entdeckung“ Amerikas ganze Themenschwerpunkte der Geschichte des europäischen Kolonialismus seit der frühen Neuzeit.

Dem deutschen Kolonialismus gilt seit einiger Zeit ein besonderes Augenmerk der Zeitschrift iz3w. Er war lange Zeit ein Stiefkind der (west-)deutschen Geschichtswissenschaft und spielte selbst in der kritischen, antirassistischen Öffentlichkeit nur eine marginale Rolle. Ab Mitte der 1990er Jahre erschienen dann in immer kürzeren Abständen zahlreiche Texte namhafter Autoren in der iz3w, die sich dieses bis dato oft von nostalgischen Gefühlen überlagerten und teils verdrängten Themas annahmen. Einen Höhepunkt bildeten im Jahr 2004 anlässlich des 100. Jahrestages des deutschen Genozides im heutigen Namibia zwei aufeinander folgende Themenschwerpunkte zum deutschen Kolonialismus. Darin nähern sich HistorikerInnen, EthnologInnen, SozialwissenschaftlerInnen etc. dem Thema mit jeweils ganz unterschiedlichen Perspektiven und theoretischen Ansätzen.

Diese unterschiedlichen Ansätze verband jedoch immer eine klare politische Agenda: Der Anspruch des iz3w war niemals nur die Behandlung des deutschen Kolonialismus in geschichtswissenschaftlich-akademischen Artikeln. Das iz3w zielte vielmehr darauf ab, den gegenüber britischem und französischem Kolonialismus oftmals klein geredeten deutschen Kolonialismus als wichtiges Thema im öffentlichen Diskurs zu verankern und dessen Fortwirken in den betroffenen Ländern sowie in Deutschland selbst deutlich zu machen. Dabei ging es darum, auf kritische Stimmen aus den ehemals kolonisierten Ländern hinzuweisen. 2004 kulminierten Forderungen aus Namibia gegenüber Deutschland, die auf eine Anerkennung der deutschen Schuld im genozidalen Kolonialkrieg von 1904-1908, eine entsprechende symbolische Entschuldigung sowie auf materielle Entschädigung abzielten. Diese legitimen Forderungen werden bis heute weitgehend von der deutschen Politik ignoriert oder gar abgewehrt.

In zahlreichen weiteren Texten stellen die AutorInnen der iz3w die aktuellen vergangenheitspolitischen Dimensionen des Kolonialismus heraus. Ebenfalls alles andere als ein gestriges Thema ist das Fortwirken kolonialer und kolonialrassistischer Bilder, Begriffe und Assoziationen in der deutschen Alltagskultur. Die tief greifenden postkolonialen Prägungen der deutschen Gesellschaft werden in aller Regel kaum reflektiert und gerade dadurch perpetuiert. An kulturellen Äußerungen und Phänomenen dieser Art, wie etwa dem Exotismus, setzt die Kritik der iz3w an.

Die über viele Jahre hinweg publizierten und daher weit gestreuten Artikel zum deutschen Kolonialismus zu bündeln und gesammelt zu präsentieren, erschien uns als lohnenswertes Unterfangen. Der vorliegende Reader enthält alle Texte zum deutschen Kolonialismus, die in der letzte Dekade erschienen. Sie werden in vier großen Themenblöcken zusammengefasst.

Der erste Block enthält Texte zu den einzelnen deutschen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien und führt überwiegend historisch und deskriptiv in die Thematik ein.

Der zweite Abschnitt behandelt Debatten zum Thema. Dies betrifft insbesondere die in der iz3w über mehrere Ausgaben hinweg geführte Diskussion um den Begriff des Genozids, der mit Blick auf den Kolonialkrieg im heutigen Namibia vielfach Verwendung findet. Mitunter werden auch unter Verwendung des Begriffs „Völkermord“ etwaige Kontinuitäten von diesem Krieg zum Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg diskutiert. In kontroversen Artikeln wird dieser Problematik nachgegangen.

Das dritte Kapitel Vergangenheitspolitik und Revisionismus behandelt Deutschland nach 1919, als eine breite Allianz von Profiteuren und BefürworterInnen kolonialer Unternehmungen den Verlust der deutschen Kolonien in Folge des Versailler Vertrages beklagte und die Rückgabe bzw. Rückeroberung kolonialer „Ergänzungsräume“ forderte. Diese Pläne nahmen in den nationalsozialistischen Kriegsvorbereitungen sehr konkrete Formen an. Mit Blick auf heute sind es vor allem Diskussionen über die Umbenennung einschlägiger Straßennamen, die Entfernung oder Umwidmung verherrlichender Denkmäler sowie Initiativen zu einem kritischen Gedenken der kolonialen Vergangenheit.

Im vierten Teil über (Post-)Koloniale Vorstellungswelten werden die Rassismen, die Formen des Exotismus und die Repräsentation von Menschen aus (ehemals) kolonisierten Gebieten kritisch beleuchtet. Neben Artikeln zu historischen Aspekten sei hier vor allem auf jene Texte verwiesen, die aktuelle Phänomene in den Blick nehmen, etwa das in deutschen Fernsehfilmen, der Werbung sowie in der Belletristik vermittelte Bild von Afrika und „den“ AfrikanerInnen.

Die Artikel der einzelnen Abschnitte sind chronologisch nach ihrem Erscheinen in der iz3w angeordnet. Dies ermöglicht es gerade im Falle der kontrovers geführten Debatten, diese in ihrem Verlauf nachzuverfolgen. Zudem spiegeln sich in den zeitlich mitunter weit auseinander liegenden Texten theoretische und methodische Entwicklungen der Kolonialgeschichtsschreibung und der Postcolonial Studies wieder. Texte zu Postcolonial Studies ohne engeren Bezug zum deutschen Kolonialismus sind in diesem Reader nicht enthalten, um den Umfang überschaubar zu halten. Entsprechende Texte zu Postcolonial Studies, Critical Whiteness etc. lassen sich jedoch auf der Homepage der iz3w über die Suchfunktion recherchieren.

Last but not least sei auf ein dem iz3w angegliedertes Projekt verwiesen, das sich seit 2006 zu einem großen Fundus an Quellen und Texten entwickelte: Unter dem Titel freiburg-postkolonial.de war das Internet-basierte Projekt von der Frage ausgegangen, inwieweit sich Spuren des deutschen Kolonialismus auch in einer kleinen Stadt wie Freiburg finden. Dies betrifft die gesamte Palette kolonialer Akteure, Vereine, Veranstaltungen, Konsumgüter, Straßennamen, Denkmäler etc. Auf www.freiburg-postkolonial.de finden sich inzwischen auch zahlreiche Rezensionen aktueller Literatur zum Thema sowie weiterführende Texte, Links und vieles mehr.

Hingewiesen sei auch auf die Ausgabe 331 der iz3w, die im Juli 2012 erschien und unter dem Titel „Koloniale Sammelwut“ die geraubten menschlichen Gebeine in deutschen anthropologischen Sammlungen und Museen thematisiert: Vor über 100 Jahren brachten deutsche Wissenschaftler zahlreiche Schädel und Gebeine aus »Deutsch-Südwestafrika« nach Deutschland, auch um damit »Rassenforschung« zu betreiben. Bis heute lagern sie in deutschen Universitätseinrichtungen und Museen. Die Nachfahren der Opfer bestehen auf Rückführung (Restitution) der Schädel ins heutige Namibia, auf offizielle Schuldanerkennung und Reparationszahlungen. Unser Themenschwerpunkt fragt: Was sind Schädelsammlungen? Was erforschen WissenschaftlerInnen heute noch daran? Welche Diskussionen gibt es in den »Herkunftsländern« über die Restitution? Seit einiger Zeit werden diese Fragen in einer wachsenden Öffentlichkeit diskutiert. Die Restitutionsforderungen aus den betroffenen Ländern des globalen Südens verlangen ein entschlossenes politisches Handeln, an dem es derzeit aber noch mangelt.

 

Wir wünschen eine erkenntnisreiche und anregende Lektüre dieses Readers.

 

die iz3w-Redaktion

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