Roland Roth und Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945
Zwischenbilanz der Bewegungsforschung
Die Erforschung sozialer Bewegungen hat in der Bundesrepublik, im Gegensatz etwa zu den USA, keine lange Tradition. Erst mit dem sozialwissenschaftlichen Versuch, die »neuen sozialen Bewegungen« (NSB) analytisch zu fassen, etablierte sich Ende der 1970er Jahre auch hierzulande eine sich explizit als »soziale Bewegungsforschung« verstehende Wissenschaft. Institutionell abgesichert ist diese jedoch nicht.
Um dieses Manko wenigstens ein bisschen abzumildern, haben die beiden Urgesteine der bundesdeutschen Bewegungsforschung, Roland Roth und Dieter Rucht, ein umfangreiches Handbuch über die Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945 veröffentlicht. Es beinhaltet neben einer theoretischen und empirischen Bilanzierung des Forschungsbereichs durch die Herausgeber eine Reihe von Aufsätzen, in denen der historisch-politische Kontext verschiedener zeitlicher Phasen in der Bundesrepublik und der DDR dargestellt werden. Schwerpunkt des Bandes sind die zwanzig Kapitel zu einzelnen sozialen Bewegungen. Sie umfassen ein weites Feld gesellschaftlicher Protestbewegungen – von der klassischen Arbeiterbewegung bis hin zu sehr speziellen wie den Kampagnen gegen Bio- und Gentechnik. Der weitgehend parallele Aufbau der Aufsätze ermöglicht es, das Handbuch als Nachschlagewerk zu nutzen. Die Qualität der einzelnen Beiträge schwankt zwar, und manche LeserInnen mögen die eine oder andere soziale Bewegung vermissen. Aber das Ziel der Herausgeber, einen Überblick über die sozialen Bewegungen der Bundesrepublik und deren Erforschung zu geben, wird erreicht.
Unter den zwanzig behandelten Bewegungen ist auch der Rechtsextremismus. Dies ist zwar einerseits folgerichtig, da dieser in den letzten Jahren immer bewegungsförmiger auftritt und damit auch die gängigen Definitionen für soziale Bewegungen erfüllt. Andererseits stellt er die Bewegungsforschung vor ein Dilemma, verstand sich diese doch oft als wissenschaftliches Sprachrohr der untersuchten Bewegungen. Doch spätestens mit der Herausbildung einer aktivistischen rechtsextremistischen Szene, die oft die Aktionsformen und selbst die Symbole etwa der ArbeiterInnenbewegung, der Außerparlamentarischen Opposition oder der NSB übernahm, musste die Bewegungsforschung erkennen, dass soziale Bewegungen nicht per se fortschrittlich und emanzipatorisch gesinnt sind. Bewegungen können eben nicht nur für die »Demokratisierung aller Lebensbereiche« antreten, sondern auch für das Gegenteil.
Dies wirft Fragen zum Selbstverständnis der Bewegungsforschung auf. Diese hat sich bereits in den 1990er Jahren weg von einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die mit emanzipatorischen Bewegungen sympathisiert, hin zu Theorien mittlerer Reichweite bewegt. Die professionelle Bewegungsforschung konzentriert sich immer stärker quantitativ-empirisch auf einzelne Teilfragen und verliert dabei die gesellschaftliche Totalität aus dem Blick. Wenn Roth und Rucht das Handbuch all denjenigen widmen, »die sich für eine menschenrechtlich orientierte, basisdemokratische Bewegungspolitik engagieren«, reflektieren sie diesen Umstand. Fraglich ist allerdings, ob ihr Buch den Trend der Bewegungsforschung zur positivistischen, staatstragenden Legitimationswissenschaft umkehren kann.
Jens Benicke