Abdulrazak Gurnah: Die Abtrünnigen
Rezension: Nur Liebe baut Brücken
Die Abtrünnigen, von denen der neue Roman des tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah seinen Titel bezieht, sind Menschen, die ihre Kultur, ihren Lebenskreis verlassen haben. Zunächst sind das zwei Liebespaare: ein Engländer und eine indischstämmige Afrikanerin sowie ein junger Schüler und eine etwas ältere, geschiedene Frau. So wie diese beiden Paare gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstoßen, so durchbricht zuletzt auch ein junger Mann die Traditionen: Er verlässt seine Familie in Ostafrika, um in London zu studieren und ein neues Leben zu beginnen. Seine Eltern werden sterben, ohne dass sie ihren Sohn, auf den sie so stolz sind, nochmals wieder gesehen haben.
Die Begegnung der Kulturen, der Übergang von einer Kultur in eine andere - dieses Thema prägt den Großteil der Romane von Abdulrazak Gurnah aus Sansibar. Nicht wenige davon liegen in deutscher Übersetzung vor, "Ferne Gestade" etwa, "Donnernde Stille", "Schwarz auf Weiß" und "Das verlorene Paradies". Der neue Roman vereint eine Vielzahl der Merkmale, die Gurnahs bisherige Bücher aufweisen. Da ist der historisch ausholende Gestus, der hier bis 1899 zurückreicht. Da ist das Leben im Exil, weil die politische Entwicklung in Tansania keine Heimkehr erlaubte. Da sind die Probleme bikultureller Partnerschaften, und da sind die familiären Verpflichtungen, denen ein Erzähler im Ausland nicht nachkommen kann.
Das Bemerkenswerte an Die Abtrünnigen ist, dass der bald 60-jährige Literaturdozent Gurnah, der selbst seit geraumer Zeit in Kent (Großbritannien) lebt, die drei Teile mit einem roten Faden durchzieht und damit einen Bogen über mehr als hundert Jahre spannt. Er erzählt die miteinander verknüpften Geschichten aus mehreren Perspektiven: in der dritten Person, in Ich-Form und in Briefform. Die drei Episoden zeigen allesamt, wie lange sich ein Kulturverlust als Defizit bemerkbar macht. Die Abtrünnigen ist ein Roman von Heimatverlust und Sehnsucht, vom Weggehen und von der Liebe. Letztere allein kann, aber nur vorübergehend, Brücken bauen. Was sonst bleibt, sind Einsamkeit und Isolation.
So wehmütig dies anmutet, so bezaubernd liest sich aber doch dieser Roman. Gurnah erzählt anschaulich, ruhig und mit viel Sinn für Details. So entwirft er Porträts unterschiedlicher Zeiten und arbeitet dabei heraus, dass es allein emotionale Bindungen sind, die inmitten einer sich wandelnden Welt Halt geben können. Insofern ist der Roman eine ergreifende Hommage auf die Liebe und auf die Freundschaft.
Manfred Loimeier