Memo Ánjel: Das meschuggene Jahr
Rezension: Ein jüdisches Leben in Medellín
Der 1954 in Medellín geborene José Guillermo (Memo) Ánjel schlägt mit seinem Roman Das meschuggene Jahr einen ungewöhnlichen Weg innerhalb der zeitgenössischen kolumbianischen Literatur ein. Dabei hält er eindeutig literarische Distanz zu Schriftstellerkollegen wie etwa Jorge Franco, Arturo Alape oder Fernando Vallejo. Im Gegensatz zu ihnen lässt er bewusst das Thema Gewalt und die damit verbundenen Subthemen wie Drogen oder Kriminalität in seiner Romanhandlung außen vor.
In einem Gespräch sagte er einmal: "Meine Kindheit, für Kolumbien klingt das vielleicht etwas seltsam, verlief ohne Leid oder Gewalt ... [sie] ist von wunderbaren Geschichten und Imaginationen geprägt..." Memo Ánjel verleugnet die Gewalt in Kolumbien keineswegs. Dennoch weigert er sich, von etwas zu schreiben, das er nie erlebt hat. Denn in die Falle der "kommerziellen Gewalt-Literatur", die unweigerlich in einer Karikatur endet, möchte er nicht laufen; eine Literatur, der es überdies an Utopie fehle, stellte er einmal fest.
Memo Ánjel stammt aus einer sefardischen Familie, die in verschiedenen Regionen Europas verstreut war; bei ihm Zuhause, in dem kleinen sefardischen Viertel Prado, seien daher viele Geschichten erzählt worden. Auch das Leben der jüdischen Familie in "Das meschuggene Jahr" prägt Geschichten, Ideen und Imaginationen, anhand derer dem Ich-Erzähler vor allem eines gelingt: eine menschliche Gemeinschaft zu schaffen, die über eine auf pure Realität ausgerichtete Raison erhaben ist. Mit wunderbarem Sinn für Humor, streckenweise von Elementen des magischen Realismus geprägt und mit einer Vorliebe zu theologisch-philosophischen Reflexionen, insbesondere mit Bezug auf die Bibel und den Talmud, beschreibt der Ich-Erzähler den Alltag der zehnköpfigen Familie im Medellín der 1950er Jahre. Der Alltag der Familie wird dabei von dem Wunsch geleitet, einmal das Pessachfest in Jerusalem zu begehen.
Bis der Wunsch jedoch in Erfüllung geht, werden noch viele Geschichten erzählt und geschehen. Neben der Wunderbrotbackmaschine des Vaters rüttelt vor allem Onkel Chaim das beschaulich-heitere Leben der Familie auf. "Chaim war leidenschaftlich, maßlos und immer wie von einem Sturm erfasst. Er kam und ging, ohne Spuren zu hinterlassen ... in Wahrheit wusste niemand etwas von ihm, und der einzige Beweis für die Länder, die er besucht hatte, waren seine Worte..."
Onkel Chaim nimmt neben den Eltern des Ich-Erzählers eine zentrale Rolle ein, nicht zuletzt deswegen, weil er aus dem familiären Gefüge auszubrechen versucht und bewusst gesellschaftliche Normen bricht. Aber er scheitert und durchlebt in seinem Bewusstseinsprozess eine nicht einfache Zeit, vom Ich-Erzähler mit einem leichten Augenzwinkern versehen: "Das Leben eines Sünders, auch wenn er Reue gezeigt hat, ist schwer, besonders bei Tisch, wo meine Mutter eine Stimmung schuf, die Chaims schlechtes Gewissen wach hielt, denn sie teilte zwar das Essen aus und schenkte nach, aber jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen, gab sie ihm zu verstehen, sie vergehe vor Schmerz."
Ute Evers