Fabien Didier Yene: Bis an die Grenzen
Am Zaun von Melilla
Wie absolut müssen die Perspektivlosigkeit und das Unvermögen sein, Armut und Chancenlosigkeit in der Heimat zu entgehen? Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, dass er oder sie alles Vertraute aufgibt, um den gefährlichen Weg durch die Wüste in eine unbekannte Welt zu wagen? Eben das tun viele AfrikanerInnen, die, sofern sie in Europa ankommen, in der hiesigen Presse als »Wirtschaftsflüchtlinge« bezeichnet werden. Es sind fast ausschließlich junge Leute, die die Flucht wagen. Sie sind hochmotiviert, sehen das Leben noch vor sich und sie wollen der Tristesse und Apathie entkommen. Die Flüchtlinge legen Tausende von Kilometern zurück, durchqueren mehrere Staaten, die Sahara, stranden am Mittelmeer und erleben dabei die Hölle auf Erden.
Fabien Didier Yene aus Kamerun war einer von ihnen. Er hat seine Odyssee durch die algerische Wüste in der fesselnden, nervenaufreibenden Chronik Bis an die Grenzen festgehalten. Viele überlebten die algerische Wüste nicht. Doch Yene und einige seiner Freunde schaffen es bis nach Marokko. Wie »räudige Hunde« werden die Flüchtlinge in Marokko behandelt. Nächtelang irrt Yene mit einer Gruppe von Schicksalsgenossen aus Kamerun, Nigeria, Togo oder Ghana durch wüstenartige Landstriche. Sie schlafen eingewickelt in Plastikplanen, meiden Wohngebiete, da die DorfbewohnerInnen Hunde auf sie hetzen und die Kinder mit Steinen nach ihnen werfen. Sie haben Angst vor der Polizei, die auch in Marokko mit Illegalen nicht zimperlich umgeht. Andere wiederum helfen ihnen, geben ihnen Nahrungsmittel und Unterkunft, damit sie sich von den Strapazen erholen können.
Yene schildert aber auch seine ganz persönlichen Gründe für seinen Aufbruch, er erklärt sein Bedürfnis nach einer guten Ausbildung, berichtet, wie er im Dorf aneckt, als er die Frau heiratet, die er liebt. Er berichtet auch von ähnlichen Erfahrungen anderer Reisender, denen er unterwegs begegnet, von der Solidarität unter Schicksalsgenossen, vom geteilten Leid und gemeinsamen Anstrengungen, Widrigkeiten zu überwinden.
Trotz aller Vorsicht wird Yene in Marokko acht Mal aufgegriffen und über die Grenze nach Algerien abgeschoben. Doch immer wieder gelingt es ihm, bis an das Wäldchen an der Grenze zur spanischen Enklave Melilla zu gelangen. Über Monate findet dort im Herbst 2005 ein Katz- und Maus-Spiel zwischen den spanischen und marokkanischen Polizisten einerseits und den afrikanischen Flüchtlingen andererseits statt. Unzählige AfrikanerInnen versuchen, mit Leitern den scharf bewachten, sechs Meter hohen Grenzzaun zu überwinden. Hinter sich marokkanische Soldaten, vor sich schwer bewaffnete spanische Zivilgardisten, die sie am Betreten der »Festung Europa« zu hindern versuchen. Die Militärs schrecken vor Gewalttaten nicht zurück. Es gibt Tote und Verletzte, und Europa schaut zu, nimmt die Todesfälle und Menschenrechtsverletzungen am Zaun von Melilla stillschweigend in Kauf.
Yenes kollektive Leidensgeschichte ist ein wichtiges Testimonial und zugleich ein literarisches Denkmal der afrikanischen Migration nach Norden.
Klaus Jetz