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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 379 | Rechte Gewalt Elaine J. Lawless, David Todd Lawrence: When They Blew the Levee

Elaine J. Lawless, David Todd Lawrence: When They Blew the Levee

Race, Politics, and Community in Pinhook, Missouri. University Press of Mississippi, 2018. 224 Seiten (br.), 23,50 Euro

»Geschichten wurden verwendet, um zu enteignen und um schlechtzumachen, aber Geschichten können auch dazu dienen, zu empowern und zu vermenschlichen. Geschichten können die Würde von Menschen zerstören, aber sie auch wieder reparieren.« Dieser Auszug aus dem berühmten TED-Talk »Die Gefahr der einen einzigen Geschichte« der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie steht dem Buch When They Blew the Levee voran und darf als dessen Motto verstanden werden. Die Autor*innen Lawless und Lawrence versuchen darin, die Geschichte der afroamerikanischen Ortschaft Pinhook, Missouri zu rekonstruieren.

Pinhook liegt im Bootheel von Missouri, jenem Zipfelchen Land, das der südöstlichsten Ecke des am Reißbrett gezeichneten Staates anhängt, nach Osten begrenzt durch den Mississippi. Diese Lage sollte dem Städtchen zum Verhängnis werden: Am 2. Mai 2011 wird es bei einer Flut vollkommen zerstört. Es geht in »When They Blew the Levee« um zwei gegensätzliche Erzählungen der Ereignisse: Da ist einmal die offizielle des Army Corps of Engineers, in der die Dammsprengung, die zur Überflutung und Auslöschung von Pinhook führte, als Erfolgsgeschichte verkauft wird, da sie die Wassermassen von umliegenden Ortschaften ablenkte. Die Existenz des Städtchens wird im offiziellen Narrativ verschwiegen – nur so war es möglich, Pinhook zu Gunsten von Cairo, Illinois, das aufgrund der Sprengung von der Flut verschont wurde, den Wassermassen auszusetzen.

Pinhook war nicht einmal gewarnt worden und musste sich innerhalb von 24 Stunden selbst evakuieren. Für die Umsiedlung gab es keinerlei Unterstützung. Das Versagen des Army Corps of Engineers und die fahrlässige Gefährdung der Bewohner*innen werden bis heute geleugnet. Bis heute warten die Bewohner*innen auf Anerkennung von staatlicher Seite, ein Wiederaufbau ist nicht geplant, eine materielle Entschädigung wird verweigert.

Lawless und Lawrence wollen dem eine Gegenerzählung gegenüberstellen: die der Bewohner*innen. Pinhook war in den späten 1930er Jahren gegründet worden, als eine Gruppe afroamerikanischer Sharecropper aus dem tiefen Süden auf der Suche nach Land hier siedelten. Die Ansiedlung war nur auf eigenem Land möglich, und Land für Afroamerikaner*innen gab es nur im Überschwemmungsgebiet – dazu noch hoffnungslos überteuert.

Es ist eine Erzählung, die sich einreiht in die lange Geschichte struktureller Diskriminierung ländlicher afroamerikanischer Communities. Pinhook ist beileibe nicht die einzige von Afroamerikaner*innen gegründete Ortschaft, die aufgrund von Behinderungen beim Landerwerb im Überschwemmungsgebiet gebaut werden musste. Die Geschichte ihrer Bewohner*innen ist Zeugnis einer Community, die trotz des Verlusts ihres Lebensmittelpunkts eine tiefe Verbundenheit pflegt. Im Kampf um Anerkennung und Gerechtigkeit steht sie dafür ein, dass ihre Version der Geschichte gehört wird.

Die Autor*innen des Bandes sehen sich als Verbündete in diesem Kampf, ohne aber ihre Rolle als Akademiker*innen und Ethnograf*innen dabei zu überschätzen oder zu glorifizieren. Für die Bewohner*innen sind sie »der Typ mit den Dreads und die weiße Lady«; eine Bezugnahme mit »etwas Belustigung und viel Zuneigung«, so Lawrence und Lawless. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sie die Stadt niemals kennengelernt hätten, wäre sie nicht zerstört worden. Dabei sind beide Forscher*innen in Missouri aufgewachsen, Lawless wohnte sogar nur wenige Meilen von Pinhook entfernt.

Mit Hilfe von Oral-History-Methoden erzählen sie in der Tradition der US-amerikanischen Folkloreforschung die (Kultur-)Geschichte einer ausgelöschten Stadt, deren Community allerdings nicht ausgelöscht wurde. Sie tragen damit zu einer Historiografie »von unten« mit dezidiert politischer Schlagrichtung bei, wie sie in den USA eine lange Tradition hat. Aufgrund der Zentralität mündlicher Überlieferungen in vielen Schwarzen Communities und der Bedeutung kreativer Ausdrucksformen wie Blues, Jazz und Gospel spielen diese Praktiken gerade für die afroamerikanische Community eine wichtige Rolle. Geschichte und Geschichten stiften Identität, vermitteln Wertschätzung und dokumentieren die Entwicklungen in den Communities.

Selbstverständlich laufen derartige Herangehensweisen Gefahr, in Bilder zu münden, die die Subjekte exotisieren und sozialromantischen Darstellungen Vorschub leisten. Allzu oft wollen solche Darstellungen den Sehnsüchten und Erwartungshaltungen einer vornehmlich weißen urbanen Leser*innenschaft entsprechen, die in sentimentaler Weise die Tragik des Geschehenen im Untergang einer mythischen, einfachen Welt des ländlichen Zusammenlebens sehen will. Lawless und Lawrence versuchen dem entgegenzuwirken, in dem sie ihre Feldforschung politisch und reziprok gestalten. Sie bauen freundschaftliche Beziehungen zu den verstreut lebenden Bewohner*innen auf, besuchen deren Zusammenkünfte, ermöglichen ihnen, auf Konferenzen zu sprechen und besprechen das rekonstruierte Narrativ immer wieder bezüglich der Richtigkeit mit ihnen. Sie sind bewusst zurückhaltend, wenn es um politischen Aktivismus ihrerseits geht: Die Bewohner*innen sollen im Vordergrund stehen, sei es nun das Narrativ des Buches oder bei der Publikmachung des Skandals um die Dammsprengung.

Dennoch erscheint in ihrem Buch das Pinhook vor seiner Zerstörung als allzu idyllischer Ort. Konflikte scheint es nicht zu gegeben zu haben, einzig die Lage im Überschwemmungsgebiet wird beklagt – mehrfach musste nach größeren Fluten wiederaufgebaut werden. Tatsächlich mögen soziale Konflikte angesichts der existenziellen Not, unter der viele Bewohner*innen heute noch leiden, in den Hintergrund treten und die wiederkehrenden Überschwemmungen gegen den aktuellen Verlust jeder Lebensgrundlage als bloße Unannehmlichkeit erscheinen.

Trotz dieser Schwäche ist »When They Blew the Levee« ein beeindruckendes Werk, das anhand des Beispiels von Pinhook den zutiefst rassistischen Umgang mit »all-black towns« in den USA beschreibt. Es ist eine Geschichte, die hiesigen Leser*innen und auch vielen US-Amerikaner*innen bislang völlig unbekannt sein dürfte. Es ist außerdem eine gelungene Ethnografie, die auf Augenhöhe mit den betrachteten Subjekten verfasst wurde. Bislang sieht es aber nicht danach aus, dass sie ihr Ziel – Gerechtigkeit für Pinhook – einlösen kann.

Kathi King

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