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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 297 | Planspiel Bevölkerungspolitik jour fixe initiative berlin: Klassen und Kämpfe

jour fixe initiative berlin: Klassen und Kämpfe

Unrast Verlag, Münster 2006, 224S., 16 Euro.

Geschichte wird gemacht

Klassen und Kämpfe klingt nach der guten alten Zeit: als das Proletariat 40-Stundenwoche und Urlaubstage erstritt und die Linke sich über das Verhältnis von Reform und Revolution Gedanken machte. Heute, da oft nur noch vom "Klassenkampf von oben" die Rede ist, wird ein Buch umso wichtiger, das die Frage nach sozialen Bewegungen und kritischen Denkmodellen wieder aufwirft. Die jour fixe initiative berlin entfaltet in ihrem Sammelband ein weites Spektrum historischer und aktueller Kämpfe, von der Stadtguerilla, über den Mai '68 in Frankreich, den heutigen Arbeitslosen- und MigrantInnenbewegungen bis hin zur Analyse kultureller Widerstandsformen wie dem Reggae.
Und sie fragt nach deren emanzipatorischem Gehalt. Allzu gut kommen die aktuellen Bewegungen dabei nicht weg: Moishe Postone kritisiert beispielsweise in seinem Beitrag, dass sich ein großer Teil der internationalistischen Bewegung nach dem 11. September nicht von den dualistischen (Denk)Strukturen des Kalten Krieges habe lösen können. Die neue Welle des Antisemitismus in der arabischen Welt sieht er in dem "steilen Abstieg der arabischen Welt" begründet, der diese "fetischisierte, grundlegende reaktionäre Form des Antikapitalismus" hervorbringe. Gänzlich falsch sei es, den Anstieg des Antisemitismus lediglich als eine Reaktion auf die Politik der USA und von Israel zu begreifen. Indem sich die westliche Linke darauf konzentriere, unterstütze sie die Tendenz, die Misere der arabischen Massen auf das Handeln bösartiger fremder Mächte zurückzuführen. Postone sieht darin Analogien zu einer verkürzten Kapitalismuskritik, die das Abstrakte - die Herrschaft des Kapitals - als Konkretes (US-amerikanischer Hegemonie) zu begreifen versuche.

Eine weitere Schwachstelle der globalisierungskritischen Bewegung zeigt Stefanie Kron auf. Auf der Grundlage von Beispielen aus Bolivien und Guatemala beleuchtet sie die Wirkungen einer verkürzten feministischen Ökonomiekritik. In den Kämpfen der guatemaltekischen Rückführungsbewegung von Flüchtlingen wie auch bei den bolivianischen Protesten gegen die Privatisierung der Gasvorkommen hätten die Frauen in der Öffentlichkeit vor allem als "Mütter" starke mediale Aufmerksamkeit erreichen können; später aber hatte diese unpolitische Positionierung zur Folge, dass sie aus dem öffentlichen Raum ins Private zurückgedrängt und ihr politisches Mitspracherecht eingeschränkt wurde.

So disparat die einzelnen Ansätze auch sind, in einem sind sich insbesondere die theoretischen Beiträge einig: Mit einer an der traditionellen Arbeiterklasse orientierten Politik kommt die Linke nicht weiter. Sergio Bologna, ehemaliger Hochschullehrer für Geschichte der Arbeiterbewegung und Industriegesellschaft, analysiert die neue Klassenzusammensetzung und kommt zu dem Schluss, dass heute keine Schicht als privilegierter Träger sozialer Umwälzung infrage kommt. Auch sei keine Ideologie oder Partei mehr notwendig, die den Unterdrückten den richtigen Weg zeige. Es komme vielmehr auf die "politische Selbstbildung" an, denn der aktuelle Kapitalismus basiere auf der Kommunikation und damit auf Lügen. Um diesen nicht zu erliegen, müssen Gegeninformationen zur Verfügung stehen - diese bereitzustellen sei eine Aufgabe der radikalen Linken. "Echte Bildung ist wie ein Immunsystem, echte Bildung ist das Einzige, was dem Einzelnen übrig bleibt, um sich vor der herrschenden Weltanschauung zu schützen." Fraglich aber, ob diese Gegeninformationsstrategie die ideologische Einbindung der Bevölkerung aufbrechen kann, ganz zu schweigen davon, ob sich auf dieser Grundlage eine Gegenbewegung formieren lässt.

Auch für die HerausgeberInnen der jour fix initiative stehen die neuen Bedingungen der Kämpfe im Vordergrund. Ob es nun "Klassen" oder "soziale Bewegungen" sind, die sich gegen bestehende Ungerechtigkeiten artikulieren, bleibt offen. Der Kapitalismus ist für sie Resultat von "Klassenkämpfen" - wobei alle im Buch versammelten Initiativen darunter subsumiert werden. Das bedeutet zwar, dass Geschichte machbar, der Kapitalismus kein Schicksal ist. Der Stellenwert der einzelnen Bewegungen und ihre politischen Zielsetzungen bleiben allerdings recht diffus.

Doch was bleibt angesichts der neoliberalen Dominanz und dem frontalen Angriff auf noch die bescheidensten "fordistischen" Rechte? Vielleicht die Hoffnung, wie sie auch die jour fix initiative formuliert, dass sich - trotz des mageren emanzipativen Gehalts mancher Kämpfe - durch sie gesellschaftskritische Utopien und Ansätze der Selbstorganisation entwickeln, die jenseits einfacher Interessenspolitik liegen.

Christine Parsdorfer

297 | Planspiel Bevölkerungspolitik
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