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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 391 | Krieg gegen die Ukraine Fürsorglicher Beschuss

Fürsorglicher Beschuss

Zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und dessen historische und aktuelle Hintergründe.

von Winfried Rust

Am 21. Februar erkennt Russland die separatistischen selbsternannten ‚Volksrepubliken‘ Donezk und Luhansk, die in der Ostukraine liegen, an. Die russische Regierung schließt anderntags Beistandsverträge und am 24. Februar überfallen russische Streitkräfte die Ukraine aus Süden, Osten und Norden. Während die Weltöffentlichkeit fassungslos zuschaut, drängt die russische Armee auf die Einnahme der Hauptstadt Kiew. Der Vormarsch stockt. Zum einen machen die russischen Truppen einen erstaunlich desorientierten, uneffektiven Eindruck. Zum anderen ist der ukrainische Widerstand unerwartet stark: seitens der Bevölkerung sowie militärisch. Schnell ist klar, dass ein extremer Unwille gegen die russische Besatzung besteht. Der zivile und militärische Widerstand genießt in der Bevölkerung großen Rückhalt. Die russischen Streitkräfte sehen sich Abwehr und massiven militärischen Gegenschlägen ausgesetzt. Putin hat sich verkalkuliert.

Der Vormarsch auf Kiew wird im April abgewehrt und der Krieg verlagert sich auf die Ostukraine um Charkiw sowie große Gebiete südlich davon, Luhansk, Donezk und die Krim. Doch gestorben wird überall im Land. Die UN zählt bis zum 11. Mai über 3.500 getötete Zivilist*innen und um die sieben Millionen Kriegsflüchtlinge. Die Zahlen sind zu Kriegszeiten ungewiss und nach aller Wahrscheinlichkeit steigend. Amnesty International dokumentiert rechtswidrige Luftangriffe auf Borodjanka sowie außergerichtliche Hinrichtungen, etwa in Butscha, Andrijiwka, Zdvyzhivka und Worsel. Wohnhäuser werden zerbombt oder die Infrastruktur wie Wasser oder Strom zerstört. Es ist nicht ‚der Krieg‘, der schädlich für ‚die Menschen‘ ist, es ist bei einem Angriffskrieg im Nachbarland viel konkreter: Es geht um Morde und von Amnesty International belegte Vergewaltigungen, jede*r Tote ist ein ausgelöschtes Leben, die Untaten werden von der russischen an der ukrainischen Seite verübt.

Versuch, Putin zu verstehen

Was ist die Begründung für diesen Krieg? Gemäß dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sind schuld: die NATO, der Westen, der ‚Nazismus‘ in der Ukraine, die Einheit Russlands und seine Geschichte.

In seiner Rede zum Kriegsbeginn vom 24. Februar nennt Putin für seine angeordnete »Sonder-Militäroperation« als ersten Grund »die Ausdehnung des Nato-Blocks nach Osten«. Das Kernproblem sei laut Putin, dass »auf den an uns angrenzenden Gebieten – ich betone, auf unseren eigenen historischen Gebieten – ein uns feindlich gesinntes ‚Anti-Russland‘ geschaffen wird«. Damit meint Putin die als essentiell russisch imaginierten Gebiete der Krim sowie »der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk«.

Putin definiert die Ukraine als Ganzes zum Feind und sagt zur ‚Sonder-Militäraktion‘: »Ihr Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind. Und zu diesem Zweck werden wir uns um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen«. Schon zuvor, in einer Rede am 16. März, setzte Putin die Fiktion als Wahrheit: »Ich stelle fest, dass sich die Ukraine, ermutigt durch die Vereinigten Staaten und eine Reihe westlicher Länder, bewusst auf ein Gewaltszenario, ein Blutbad und eine ethnische Säuberung im Donbas vorbereitet hat.«

Das verweist auf zwei essenzielle Prinzipien der Putinschen Russischen Föderation: Erstens die innere Einheit Russlands. Zweitens der historische Anspruch Russlands auf die Ukraine, oder zumindest auf deren ‚unverbrüchliche Freundschaft‘. Zu letzterem veröffentlichte Putin im Juli 2021 den Aufsatz »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer«. Hier setzt er den Gründungsmythos der alten Rus‘ im 10. bis 13. Jahrhundert, in welcher Russen, Belarussen und Ukrainer geeint waren. Aber mit dem Mongolensturm war das vorbei und die westlichen Gebiete standen die längste Zeit unter der Herrschaft Polen-Litauens. Putin setzt dem in seinem Aufsatz ein Streben nach »Wiedervereinigung« der »russischen Welt« entgegen.

Das Dogma der Einheit

In der Sowjetunion wurde die Ukraine zu einer eigenen Sowjetrepublik. Das kritisiert Putin in seinem historischen Aufsatz heftig, denn die »große russische Nation« sei zertrennt worden. Noch schlimmer kam es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit der Westorientierung der Ukraine nach den Massenprotesten auf dem Maidan 2013/14. Die Ukraine werde die »Geisel eines fremden geopolitischen Willens«. Es ist plausibel, dass sich Wladimir Putin in der deutschen verschwörungstheoretischen Szene großer Beliebtheit erfreut.

Putins Panik vor der Erschütterung russischer Interessen rührt auch von einem innenpolitischen Dogma her. Die innere Einheit der Russischen Föderation ist prekär. Sie ist nicht nur gefährdet durch das Despotentum der Regierung. Russland ist ein multiethnischer Staat mit konträren Interessen. Das Anliegen, die Föderation zusammenzuhalten, ist mehr als legitim. Ein Auseinanderfallen in einer Melange aus separatistischen Volkstümeleien und wirtschaftskriminellem Bandenwesen ist eine Horrorvision. Die anspruchsvolle Aufgabe, die widerstrebenden Kräfte in der Föderation zusammenzubringen, ist beim Grobmotoriker Putin und dessen Regime sicher in schlechten Händen. Aber die Sensibilität gegenüber einer Destabilisierung der Russischen Föderation, die sich ohnehin in einer wirtschaftlichen und politischen Krise befindet, hat eine reale Grundlage.

Der multiethnische Charakter der Russischen Föderation erklärt den hohen Stellenwert, den der Umgang mit Separatismus genießt. Das derzeitige Regime pflegt den schlechtmöglichsten Umgang damit: Nach innen werden abweichende Tendenzen mit eiserner Faust unterdrückt. Zwei Tschetschenienkriege sorgten dabei für Klarheit. Aber nach außen werden prorussische Separatismen brüderlich unterstützt, obwohl (oder weil) dies Nachbarländer destabilisiert. Russland schürt nicht nur aktiv die Abspaltungen im Donezbecken und der Krim, sondern auch die Fantasierepubliken Transnistrien, Südossetien oder Abchasien. Der Umgang nach innen und außen mit den Separatismen, bekämpfend versus unterstützend, ist nur scheinbar gegensätzlich: Beides dient der nationalen Stärke und Einheit Russland und beides verdeutlicht den repressiven Charakter des gegenwärtigen Regimes.

Putin zu verstehen ist schon einmal gescheitert. Der Versuch von Versöhnungspolitik und vom ‚Wandel durch Handel‘ ist nicht per se zu diskreditieren. Aber nun, wo Putins Regime den destruktiven Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, ist die Situation klar. Es gab Analyst*innen, die vor dem Despotismus des russischen Regimes gewarnt haben. Ebenso gab es die kritischen Stimmen aus der Ukraine und aus der russischen Opposition. Ihnen sollte man spätestens jetzt zuhören, um die Gegenwart zu verstehen.

Was schützt vor Bomben?

Zu Redaktionsschluss wird das ostukrainische Charkiw bombardiert. Es ist keine Metapher, dass die Stadt in Trümmern liegt. Die Bevölkerung lebt seit Wochen in Kellern und U-Bahnschächten. Hunderte wurden getötet. Am 15. Mai ziehen sich die russischen Truppen zumindest temporär zurück. Wieder ist das russische Militär mangelhaft aufgestellt. Man kann noch kein Fazit ziehen, aber dass die viertteuerste Armee der Welt kaum Gebietsgewinne in der Ukraine schafft, hat nicht zuletzt mit der Dysfunktionalität des Autoritarismus zu tun. Diese steht der intakten zerstörerischen Potenz Russlands nach innen und außen nicht entgegen. Charkiw sah sich zeitweise Dutzenden Luftangriffen pro Tag ausgesetzt. Aber die Erfolge von Putins Zerstörungswerk sind am Ende überschaubar: Der verlustreiche Vormarsch stockt, die russische Wirtschaft wird durch die Sanktionen auf Dauer geschwächt. Das internationale Ansehen ist im Keller. Russland akquiriert mit dem Krieg zwei neue Mitgliedsaspiranten, Finnland und Schweden, für die NATO.

Der andere Grund für das Zurückdrängen der russischen Armee in Charkiw ist die Widerstandskraft des ukrainischen Militärs. Es ist die einzige Institution, die die ukrainische Bevölkerung vor russischen Bomben und Raketen schützt. Linksdogmatische aber auch rechtskonservative Beobachter*innen scheinen mit dieser unbequemen Einsicht große Probleme zu haben. In einem »Offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz« wollen einige »Intellektuelle und KünstlerInnen« den militärischen Widerstand nachhause schicken, weil sie die Kriegsfolgen unerträglich finden: »Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.«

Dabei ist es die Despotie, die unerträglich und ursächlich für die Misere ist. Die Entscheidung, ob man ihr den adäquaten Widerstand entgegensetzt, ist bei der ukrainischen Bevölkerung und ihrer gewählten Regierung gut aufgehoben. Deren Unterstützung wiederum steht oder stünde nicht nur europäischen »Intellektuellen und KünstlerInnen« gut an. Was weder die Freigabe eines »Sondervermögens Bundeswehr« über 100 Milliarden Euro, noch einen westlichen Kriegsbeitritt bedeuten sollte. Die Diskussion ist durchaus kompliziert, hier geht es um die Bewertung der aktuellen russischen Politik jenseits von Weichzeichnung und Relativierungen.

Die multipolare Welt bedeutet für Linke das Ende der schon immer falschen Analyse, dass ein Epizentrum des Bösen, sprich die USA, für das Elend der Welt verantwortlich sei. Die Zentren der Menschenrechtsverletzungen liegen derzeit in den Philippinen, der Türkei, Russland, Afghanistan und so weiter. Wie dort gelitten und gegen Unterdrückung gekämpft wird, wäre der Stoff für einen neuen Internationalismus, der nicht so heißen muss, der aber die antidespotischen Stimmen etwa aus der Ukraine und die Herrschaftswut, die sich in den verschiedensten lokalen Machtzentren wie Russland materialisiert, ernstnimmt.

 

Winfried Rust ist Mitarbeiter im iz3w.

391 | Krieg gegen die Ukraine
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