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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 391 | Krieg gegen die Ukraine Im Krieg siegt der Hunger

Im Krieg siegt der Hunger

Krieg und Hunger gehen schon immer Hand in Hand. Mehr denn je sind die Folgen des Krieges nicht nur in der Nähe der Kampfgebiete zu spüren. Der Krieg gegen die Ukraine zeigt einmal mehr, wie verwundbar das globale Ernährungssystem ist.

von Christian Jakob

Der Ukraine-Krieg hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können: Rund 800 Millionen Menschen hatten 2021 mit weniger als 1.800 Kalorien am Tag nicht genug zu essen. An akut lebensbedrohlichem Hunger litten laut dem Welternährungsprogramm (WFP) rund 193 Millionen Menschen. Das waren fast 40 Millionen mehr als im vorigen Rekordjahr 2020, und voraussichtlich werden weitere 50 Millionen im Laufe des Jahres durch Folgen des Krieges gegen die Ukraine Hunger erleiden.

Das WFP schlüsselte die Ursachen für den lebensbedrohlichen Hunger so auf: Wetterextreme zogen den Hunger von über 23 Millionen Menschen weltweit nach sich, Wirtschaftskrisen taten dies bei über 30 Millionen Menschen. Verursacher Nummer Eins für extremen Hunger sind mit 139 Millionen Betroffenen Kriege und Konflikte. In vielen Kriegen wird Hunger als Waffe eingesetzt – so nun auch in der Ukraine. Die Folgen sind global spürbar. Hinzu kommt: Das Horn von Afrika ist seit dem Frühjahr 2022 mit der schlimmsten Trockenheit seit 40 Jahren konfrontiert. Mehr als 15 Millionen Menschen in Äthiopien, Kenia und Somalia kämpfen nach UN-Angaben mit Nahrungsmittelknappheit.

Dann begann der Krieg. Er entzog dem Weltmarkt unter anderem praktisch die komplette ukrainische und russische Exportproduktion von Weizen (zusammen 26 Prozent des Welthandels, also jeden vierten Sack Weizen), Sonnenblumenöl (allein Ukraine 51 Prozent) sowie Dünger (allein Russland 15 Prozent). Ukrainische Güter können wegen der Seeblockade im Schwarzen Meer nicht exportiert werden. Russland seinerseits verbot teils Exporte. Gleichzeitig fürchten Speditionen und Zwischenhändler*innen Strafen, wenn sie mit Russland Geschäfte machen. In vielen Teilen der Welt leidet die Agrarproduktion, weil russischer Dünger fehlt. Die durch den Krieg gestiegenen Dieselpreise verteuern die Agrarproduktion zusätzlich.

In welchem Ausmaß diese Umstände die globale Hungerkrise genau verschärfen, muss sich noch zeigen. Absehbar ist schon jetzt, welch katastrophale Folgen die Verschränkung von Krieg, Klimakrise, Agrarindustrie und spekulativem Lebensmittelmarkt hat.

Der industrielle Agrarsektor ist dabei selbst ein Treiber des Klimawandels. Die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Hektarerträge wurden mit einem hohen Einsatz fossiler Energieträger erkauft, wie der Agrarökologe Peter Clausing schon 2013 zeigte. Herstellung, Transport von Saatgut und Agrochemikalien, Bodenbearbeitung, der teils globale Transport von Ernte, Schlachtvieh und landwirtschaftlichen Abfallprodukten, die technische Trocknung oder gekühlte Lagerung der Ernteprodukte, Pumpen für Bewässerung, Beheizung von Gewächshäusern, Verarbeitung und Verpackung sowie die stetig zunehmende Entwaldung und Ausweitung von Agrarflächen stoßen enorme Mengen an Treibhausgasen aus. 2019 war die Landwirtschaft nach Schätzung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) für 16,5 der weltweit ausgestoßenen 57 Gigatonnen CO2-Equivalente verantwortlich.

Weizen war auf dem Weltmarkt bereits Ende November 2021 aufgrund von Dürren und Corona so teuer wie noch nie. Seit Kriegsbeginn schoss der Preis an der europäischen Getreidebörse Matif in Paris dann um weitere 50 Prozent nach oben, ein historisch einmaliger Sprung. Mitte Mai lag er bei rund 417 Euro je Tonne – unbezahlbar für arme Länder.

Die Ernährungssituation droht so prekär zu werden, dass Indien als zweitgrößter Weizenproduzent der Welt den Export von Weizen Mitte Mai verbot, Indonesien den von Palmöl, das als Speiseöl und als Rohstoff für Biodiesel genutzt wird. Die Krise schränkt auch die humanitäre Hilfe ein: Rund 95 Millionen Menschen sind derzeit auf Lebensmittelhilfe der UN angewiesen. Die kann jedoch mit ihren knappen Mitteln wegen der steigenden Preise immer weniger Hilfsgüter kaufen. Hier zeigen sich die Grenzen der Nothilfe – und die Dringlichkeit einer auf Ernährungssouveränität und Agrarökologie setzenden Transformation des landwirtschaftlichen Sektors.

Kein Rezept gegen den Hunger

Die Agrarlobby indes will den weltweit explodierenden Lebensmittelpreisen vor allem mit mehr Produktivität beikommen: Mehr konventionelle Anbauflächen, mehr Hochertragssorten, mehr Dünger. »Im Namen des Umweltschutzes stillgelegte Anbauflächen müssen vorübergehend wieder für die Lebensmittelproduktion genutzt werden«, forderte etwa Simone Schmiedtbauer, konservative Agrarpolitikerin aus Österreich im EU-Parlament.

Dabei ist die Welt-Jahresproduktion von Getreide in den letzten 15 Jahren stabil geblieben. Sie stieg zwischen 2004 und 2022 von 1,9 auf 2,8 Milliarden Tonnen an – also um 47 Prozent. Die Weltbevölkerung wuchs im selben Zeitraum nur um 23 Prozent. »Es gibt keine Nahrungsmittelknappheit auf der Welt«, sagt Martin Rentsch, der Sprecher des UN-Welternährungsprogramms in Deutschland, dazu. »Es gibt global immer noch genug Nahrung, auch genug Weizen.« Das gelte auch jetzt. Allerdings verdreifachte sich der FAO-Welt-Getreidepreisindex seit 2004 von rund 60 auf rund 170 Zählerpunkte. Foodwatch etwa sieht das Problem deshalb hauptsächlich auf Seiten des Markts.

Für den sind die Börsen zentral. Praktisch jeder Getreidedeal wird heute an den globalen Getreidebörsen, vor allem in Paris und Chicago, über Futures genannte Termingeschäfte abgesichert. Händler*innen bestellen, je nach aktuellen Preisen und Auftragslage, teils für weit in der Zukunft liegende Ernten. Bis zum Zeitpunkt der Lieferung können die Preise schwanken. Die Futures sollen die Verkäufer*innen vor Preisverfall schützen, weil der künftige Abnahmepreis bereits auf dem aktuellen Niveau vereinbart wurde. Käufer*innen hingegen können sich dagegen absichern, bei künftiger Knappheit und steigenden Preise mehr bezahlen zu müssen.

Börsen treiben die Preise

Foodwatch und andere NGOs kritisieren seit langem, dass diese Geschäfte preistreibende Wirkung haben. Anfang Mai legte die Recherche-NGO Lighthouse Reports eine aufschlussreiche Untersuchung darüber vor, wie internationale Banken und Privatanleger*innen im Ukraine-Krieg auf steigende Lebensmittelpreise gesetzt haben. Am 7. März, als der Weizenpreis ein Rekordhoch erreichte, habe die US-Investmentbank JP Morgan ihre Kund*innen ermutigt, in Agrarfonds zu investieren. In jener Woche bekam der rohstoffgebundene Exchange Traded Fund Investitionen in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar – viermal so viel wie sonst. Bis zum 11. April hatten allein die beiden größten US-Agrarfonds, der Landwirtschaftsfonds von Invesco und der Weizenfonds von Teucrium, Nettoinvestitionen in Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar angesammelt – sechsmal so viel wie im gesamten Jahr 2021.

Anfang Mai forderte Foodwatch mit Verweis auf diesen Bericht von der EU »dringend wirksame Handelsschranken«. Mit sogenannten Positionslimits solle sie die Wetten auf steigende Preise beenden. Hebel dazu wäre eine Begrenzung der Zahl der zu Spekulationszwecken geschlossenen Warenterminverträge pro Handelsteilnehmer*in.

Die europäische Getreidebörse Matif bestreitet indes, dass die Finanzfirmen die Preise hochtreiben. Der Preisanstieg reflektiere die reale Knappheit. Zudem sei der Zugang zu Matif stark reglementiert. Neben physischen Händler*innen, die Güter real liefern oder bestellen, könnten reine Finanzfirmen nur noch unter bestimmten Bedingungen dort aktiv werden.

Der Agrarhandelsexperte Francisco Marí von Brot für die Welt sieht das Problem dennoch bei den Börsen. Tatsächlich, so sagt er, hätten einige EU-Länder, insbesondere Frankreich, wo Matif ihren Sitz hat, nach den Agrarkrisen von 2008 und 2011 den Börsen-Zugang und die Spekulation stark reguliert. Die als besonders problematisch geltenden Leerverkäufe im Waren-Termingeschäft seien hier kaum noch möglich. Dabei handelt es sich um Deals, bei denen Waren verkauft werden, die die Verkäufer*innen (noch) gar nicht haben. »Der Handel in Paris ist wegen der Regulierungen, vor allem physische Kontrakte abzuschließen, nicht preistreibend«, sagt Marí.

Das größte Handelsvolumen aber werde gar nicht in Paris, sondern an der Chicago Board of Trade getätigt. Die Obama-Administration habe zwar 2011 Restriktionen für die Leerverkäufe erlassen. Die Trump-Regierung habe diese Regulierungen aber wieder aufgehoben und zudem Finanzanleger*innen und Fonds von Mitteilungspflichten befreit. So sei kaum noch feststellbar, welchen Anteil solche Geschäfte etwa am Weizenpreis hätten. Die Chicagoer Börse sei global preisbildend und die europäische Matif könne sich den dortigen, auch auf Spekulation beruhenden, Preisen nicht entziehen.

Das wirft zum einen die Frage auf, ob es überhaupt erlaubt sein sollte, Grundnahrungsmittel an Börsen zu handeln. Zum anderen hat die Weizenabhängigkeit armer Länder komplexe Ursachen. Laut Marí ist sie bewusst von USA und EU durch den Export subventionierter Überschüsse in arme Länder zu Billigstpreisen herbeigeführt worden, und in Situationen wie jetzt führe das zu Ernährungskrisen. Gleichzeitig gebe es bei »moderat hohen Preisen« an den Börsen den aus entwicklungspolitischer Sicht positiven Effekt, dass Kleinbäuer*innen ihre eigenen Nahrungsmittel regional besser vermarkten können.

 

Christian Jakob ist Journalist bei der taz.

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