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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 391 | Krieg gegen die Ukraine Misstrauen ohne Ende

Misstrauen ohne Ende

Imran Khan ist der erste Premierminister Pakistans, der mit einem parlamentarischen Misstrauensvotum aus dem Amt gejagt wurde. Am 10. April endet der pakistanische Machtkrimi im Parlament. Nun verlagert sich der politische Wettbewerb auf die Straße: Imran Khan mobilisiert zum Marsch auf Islamabad.

von Thomas K. Gugler

»Demokratie ist die beste Rache«, verkündet Bilawal Bhutto Zardari von der Pakistanischen Volkspartei (PPP), der Sohn der langjährigen Premierministerin Benazir Bhutto und von Ex-Präsident Asif Ali Zardari, zwei Minuten nach Mitternacht am 10. April 2022 erleichtert: 174 der 342 Mitglieder der Nationalversammlung unterstützten das mehrfach verschobene Misstrauensvotum gegen Premierminister Imran Khan. Am 11. April wird Shehbaz Sharif von der Muslimliga (PML-N) ebenfalls mit 174 Stimmen zum neuen Regierungschef gewählt. Er ist der Bruder des dreimaligen Premierministers Nawaz Sharif, der im Dezember 2018 wegen Korruption zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Für eine medizinische Untersuchung durfte er im November 2019 nach London reisen und agiert seitdem aus dem britischen Exil. Imran Khan nennt Shehbaz Sharif daher auch »Crime Minister« anstatt »Prime Minister«.

Chronologie des Misstrauensvotums

Ex-Premierminister Imran Khan regierte nach mehr als dreieinhalb Jahren noch immer mit den allzu durchschaubaren Wahlkampfparolen vom baldigen Aufschwung. Seine antiwestlichen Parolen könnten das Militär, die zentrale Machtinstitution Pakistans (siehe iz3w 390), zuletzt von ihm abgebracht haben. Als 23 EU-Botschafter*innen am 1. März Khan in einem offenen Brief aufforderten, die Ukraine-Invasion von Russland zu kritisieren, wütete Khan: »Für wen haltet ihr uns? Für eure Sklaven, die nach eurer Pfeife tanzen?« Der ehemalige Außenminister Shah Mehmud Qureshi schlug am 10. April in dieselbe Kerbe: »Die Nation muss sich entscheiden, ob sie in einem souveränen Staat leben oder Sklave bleiben will.« Die antiwestliche Rhetorik Khans ging Armeechef Qamar Javed Bajwa zu weit: Am 2. April verurteilte der General die russische Invasion und widersprach öffentlich Khans prorussischer Positionierung. Das Militär hatte lange von dem populistischen Narrativ von Imran Khan profitiert, nach dem Khan sich als Kämpfer gegen das korrupte Establishment der zwei dynastischen Altparteien PPP und PML-N exponiert. Denn nach dieser Erzählung war die militärnahe Elite des Landes fein raus. Dann trieb es Khan zu weit. Ende April floh der pensionierte Major Adil Raja nach London: Er war einer der lautesten Unterstützer Imran Khans. Pakistans Establishment steht vor einem Scherbenhaufen: Das vormals gepflegte Narrativ ramponierte alle Alternativen zu Imran Khan – und der ist abserviert.

Am 8. März brachte die Opposition das Misstrauensverfahren gegen Khan auf den Weg. Imran Khans letzter Trumpf dagegen war die klar verfassungswidrige Auflösung der Nationalversammlung am 3. April. Der Oberste Gerichtshof vereitelte diese sogleich. Bereits der vorletzte Schachzug Khans am 27. März verstörte das Land: Auf einer Massenkundgebung bezeichnete Khan das Misstrauensvotum als ausländische Verschwörung, weiter bezichtigte er kritische Parlamentarier*innen des Landesverrats. Später konkretisierte er, die USA wollten den Regimewechsel in Pakistan, um ihn für seine Auslandsreise nach Moskau zu bestrafen. Am 24. Februar, dem Tag des Beginns der russischen Invasion der Ukraine, traf Khan Russlands Präsident Wladimir Putin für ein dreistündiges Gespräch über eine Energiepartnerschaft. Der Zeitpunkt für den ersten Besuch eines pakistanischen Regierungschefs in Moskau seit 23 Jahren war unglücklich. Die Zeitleiste der Geschehnisse spricht gegen Khans Verschwörungstheorie: Formal angekündigt hatte der Oppositionsführer das Misstrauensvotum gegen den Premierminister schon am 11. Februar.

Als Reaktion auf den demokratischen Machtwechsel legen Parlamentarier*innen von Khans Gerechtigkeitspartei (PTI) Mitte April reihenweise ihr Mandat nieder. Es ist der Versuch, das demokratische System von innen heraus zum Kollaps zu treiben. Khan stürzt lieber das Parlament als eine persönliche Niederlage einzugestehen. Nun verlagert sich die politische Krise auf die Straße.

Massenproteste der Youthiya

Imran Khan ruft zu Massendemonstrationen auf, zum Freiheitskampf Pakistans gegen das »importierte Regime« aus den USA, wie er die neue Regierung nennt. Noch einmal mobilisiert er die Wut der Straße auf die »korrupte Mafia« der Zentralregierung in Islamabad und die USA. Die Ideologie des Antiamerikanismus funktioniert in Pakistan zuverlässig, um wütende Mobs auf die Straße zu bringen. Landesweit werden öffentlich Bilder von Joe Biden sowie US-amerikanische Flaggen verbrannt. Vor allem die Jugend, die vom Establishment nun despektierlich Youthiya (aus youth und cutiya für Idioten, wörtlich: Ficker) genannt wird, kreischt inbrünstig: »Mit Yaqin (Glaubensgewissheit)! Mit Iman (Glaubenstreue)! Mit Imran!«; und: »Wir sind keine Sklaven Amerikas!«

Imran Khans Abgang ähnelt demjenigen von Donald Trump: Von der Verantwortung des Amtes befreit, entfesseln seine populistischen Parolen noch hemmungsloser destruktive Dynamiken, welche die Politik vor sich hertreiben, die enttäuschte Anhängerschaft radikalisieren und die Gesellschaft spalten. Für die letzte Maiwoche kündigt er einen Marsch von zwei Millionen Anhänger*innen auf die Hauptstadt Islamabad an. Unterstützt wird er von Tariq Jamil, dem populären Fernsehprediger der Tablighi Jamaat, einer konservativen sunnitischen Missionsbewegung aus der Tradition der Deobandis, die eine streng am Koran ausgerichtete Lebensweise befürworten. Der Fernsehprediger fiel zuletzt durch seine Erklärung auf, Pakistans Covid-19-Epidemie sei Gottes Strafe für den »Moralverfall« der muslimischen Frauen. Khan und Jamil riefen bei einem landesweit übertragenen Auftritt zum Sturm auf Islamabad auf und vergossen Tränen beim gemeinsamen Gebet für die haqiqi democracy, die wahre Demokratie.

Mit der Mobilisierung zorniger Massenproteste verbuchte schon die radikalislamische Barelwi-Partei (TLP) Erfolge. Die islamistischen Kleinparteien agieren auf der Straße erfolgreicher als an den Wahlurnen. Und je weiter sich die Grenzen sozial akzeptierter Aggressionen dabei verschieben, desto mehr Gewalt wird entfesselt. Die neue Regierung starrt schockiert in den herannahenden Abgrund. Während der ersten Auslandsreise des neuen Premierministers nach Saudi-Arabien kam es dort am 28. April zu Tumulten an der Grabesmoschee in Medina. Mehrere Pakistaner*innen beschimpfen Shehbaz Sharif als Dieb. Saudische Sicherheitskräfte nehmen Protestierende fest. In Pakistan zeigt man sich beschämt über den Wutausbruch an einer der heiligsten Pilgerstätten des Islams. Der neue Innenminister Rana Sanaullah (PML-N) droht den ausgewiesenen Pilger*innen mit einer Blasphemie-Klage. Weiter wurde der ehemalige Sprecher der Nationalversammlung Qasim Suri (PTI) in einem Restaurant von einer randalierenden Gruppe angegriffen.

Das Dilemma bleibt

Die Wut der Straße ist inflationsgetrieben. Der Warenkorb des pakistanischen Statistikamtes verteuerte sich in der ersten Aprilwoche um knapp 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Aktuell erreicht die pakistanische Rupie ein historisches Tief. Ein Dollar kostet gegenwärtig 193 Rupien (vor fünf Jahren waren es 100 Rupien). Würden die Wechselkursverluste und die gestiegenen Importpreise direkt weitergegeben, müsste allein der Benzinpreis um über 83 Prozent steigen. Dabei handelt es sich nicht um Benzin, das zum Wohle der Umwelt eingespart werden könnte. Es geht dabei viel um Logistik und Transport, also um eine Preissteigerung sämtlicher Gebrauchsgüter, von Traktoren, die zur Landwirtschaft gebraucht werden (Grundnahrungsmittelpreise), bis hin zum Diesel für Generatoren, die man wegen der Stromausfälle benötigt, um überhaupt Licht zu haben. An Stromsparen ist bei der gegenwärtigen Hitzewelle eigentlich nicht zu denken. Die andauernde Hitze lässt aber Stromnetze zusammenbrechen: Zwischen sechs und zehn Stunden am Tag fällt der Strom an Hitzetagen gegenwärtig in den Städten aus, zwischen acht und sechszehn Stunden täglich fehlt der Strom in ländlichen Gebieten. Der Frust der Menschen ist nachvollziehbar: Das Geld reicht nicht für Strom und Benzin, und außerdem fehlt beides.

Die neue Regierung ist eine opportunistische Allianz stark rivalisierender Parteien. Sie existiert nur, um Imran Khan zu stürzen. Aber wenn die Regierungskoalition bis zu den regulären Wahlen im September 2023 durchhalten will, muss sie schnell liefern. Sie muss die Wirtschaft, die Rupie und die Benzin- und Lebensmittelpreise stabilisieren, sowie die Gewalt der Demonstrierenden rasch zügeln, damit der politische Wettbewerb nicht blutig eskaliert. Dabei kann der Staatshaushalt die gestiegenen Energiekosten nicht dauerhaft subventionieren. Pakistan ist zwar das fünftgrößte Land der Welt, aber sein Staatshaushalt rangiert auf dem bescheidenen Rang 54. Rechnet man die entgangenen Steuereinnahmen hinzu, kostet die Explosion der Benzinpreise den maroden Staatshaushalt bis Ende Mai 200 Milliarden Rupien (über eine Milliarde Euro). Der Ausbruch von Unruhen scheint vorprogrammiert zu sein.

 

Thomas K. Gugler ist Mitglied des Südasien-Konsortium e.V. und des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam an der Goethe-Universität.

391 | Krieg gegen die Ukraine
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