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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 391 | Krieg gegen die Ukraine »Sie wollen zurück ins Jahr 1996«

»Sie wollen zurück ins Jahr 1996«

Seitdem die Taliban im August 2021 die Macht übernommen haben, verschärft sich die humanitäre und ökonomische Lage in Afghanistan zunehmend. Es fehlt an finanzieller Hilfe aus dem Ausland und der Krieg in der Ukraine droht die Aufmerksamkeit für die Krise zu verdrängen. Währenddessen schränkt das Taliban-Regime die Rechte der Bevölkerung weiter ein. Wir sprachen mit dem Menschenrechtsaktivisten Zia Moballegh über politische Fehler und fehlende Hoffnung.

 

iz3w: Wie geht es den Menschen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban?

Zia Moballegh: Die Bevölkerung leidet unter extremer Armut. Etwa 30 Prozent der Menschen haben nicht genug Geld für Essen, mindestens genauso viele können sich nur eine Mahlzeit am Tag leisten. Außerdem setzt die politische Agenda der Taliban auf Segregation und Einschränkung weiblicher Teilhabe. Das verstärkt wiederum die Armut, da Frauen nicht arbeiten können. Und es verstärkt die Gewalt gegenüber denjenigen, die dennoch arbeiten gehen: Ich habe von einer Krankenpflegerin im Norden Afghanistans gehört, die von den Taliban ermordet wurde, weil sie ohne männlichen Verwandten unterwegs war, um Patient*innen zu behandeln.

Im Moment steht das Land vor großen Herausforderungen: Es gibt keine international anerkannte Regierung; der Staat ist bankrott, während Armut und Arbeitslosigkeit zunehmen. Der Raum für soziale Teilhabe, Musik, Kunst und das Recht auf Bildung wird systematisch eingeschränkt. Gleichzeitig hat die Regierung keinerlei Pläne, um der Armut entgegenzusteuern. So erklärte der Premierminister der Taliban in einer offiziellen Radioansprache, dass sie nicht gekommen seien, um Essen oder Arbeit bereitzustellen. Stattdessen riet er den Menschen, bei diesen Problemen zu Gott zu beten.

 

Sie sind mit Ihrer Familie vor fünf Jahren aus Kabul nach Deutschland geflohen, nachdem Sie aufgrund Ihrer Arbeit für Frauenrechte und Demokratisierungsprozesse bedroht wurden. Was hat die Nachricht der Regimeübernahme durch die Taliban für Sie bedeutet?

Mit dem Zusammenbruch der Regierung kollabierte auch alles andere: die Hoffnungen, die Arbeit. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten 20 Jahre lang an etwas, das mit einem Mal zerstört wird! Ich war am Prozess für einen Verfassungsentwurf beteiligt, arbeitete mit weiblichen Abgeordneten an einer 25-Prozent-Quote im Parlament und unterstützte einen Entwurf des Gesetzes zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (EVAW). Das war ein mühsames Ringen mit konservativen Gruppen. Als alle diese Errungenschaften mit einem Mal zusammenbrachen, war das ein schrecklicher Moment für mich.

 

War es schon früher absehbar, dass die Taliban die Macht über das gesamte Land ergreifen würden?

Als sie im September 2015 für kurze Zeit die Provinz Kundus einnahmen, schien das wieder denkbar. Zudem ließ die Korruption in der Regierungsverwaltung die Taliban erstarken. Sie haben es außerdem geschafft, den Diskurs zu dominieren: Demnach falle der Westen in muslimische Länder ein, um deren Kultur und nationale Identität auszulöschen. Anstatt diese Probleme anzugehen, unterdrückte die damalige Regierung um Präsident Aschraf Ghani in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit zivilgesellschaftliches Engagement.

 

Hätten die Taliban gestoppt werden können?

Definitiv. 2001 war die Macht der Taliban auf dem Nullpunkt. Sie zogen es in Betracht, sich an der Regierung zu beteiligen, begannen zu demilitarisieren und in Kabul eine Partei zu gründen. Aber mit der Korruption und der schwächelnden Regierung konnten sie ihre Macht wieder ausbauen. Gleichzeitig gab es eine Kluft zwischen städtischen und ländlichen Regionen. Themen rund um Demokratie und die neue Regierung waren vor allem in Kabul und im Zentrum des Landes dominant. Doch der Osten und Süden, wo die Madrasas, die islamischen Schulen, einen großen Einfluss haben, wurde in diesen politischen Diskursen nicht abgebildet. Schlussendlich war auch die afghanische Armee nach dem NATO-Abzug nicht erfahren genug, um die nötige Sicherheit zu erhalten.

 

Welche Fehler wurden seit dem Petersberg-Prozess zur Neuordnung der Verhältnisse in Afghanistan 2001 gemacht?

Die US-amerikanische Regierung unterschätzte die Rolle der Taliban und nutzte stattdessen die Möglichkeit, mit ihren Alliierten eine neue Regierung zu formen. Hier wird versucht, Friedensprozesse mit schnellen Lösungen voranzutreiben, in dem die verschiedenen Kriegsparteien die Macht untereinander aufteilen. Das schließt aber die Opfer des Kriegs und die Zivilgesellschaft aus. Die afghanische Zivilgesellschaft saß nie mit an den Verhandlungstischen. Als Resultat übergaben die USA 18 Jahre später alles an die Taliban und verabschiedeten sich.

Eine weitere Fehleinschätzung war, dass deutsche Politiker*innen nur wenige Wochen vor dem Regimewechsel das Land als sicher genug erklärten, um Menschen abzuschieben. Dabei wurden schon weite Teile des Landes von den Taliban kontrolliert. Ich erinnere mich, dass Heiko Maas ein paar Wochen vor dem Regimewechsel die Lage insbesondere in Kabul und die Provinzen Bamiyan und Pandschir als stabil einstufte. Auch US-amerikanische Politiker*innen prognostizierten, dass die Regierung um Präsident Ghani mindestens ein Jahr nach Abzug der Truppen halten würde.

 

Welche Rolle spielen zivilgesellschaftliche Organisationen für Friedensprozesse in Afghanistan?

Gerade sieht es nicht gut aus, denn viele der Vereine und NGOs sind von Entwicklungshilfe abhängig, die nun gestrichen ist, weil das Bankensystem nicht funktioniert. Zuvor waren einige der Organisationen sehr einflussreich. Die internationale Gemeinschaft sollte zukünftig mehr auf die Zivilgesellschaft setzen. Sie ist die treibende Kraft für Veränderung in Afghanistan. Sie stellte auch die Mittelklasse und die Steuerzahlenden: Vor dem Regimewechsel waren 21 Prozent der Steuerzahlenden bei NGOs angestellt.

 

Wie wirkt sich die veränderte europäische Außenpolitik in Folge des Ukraine-Kriegs aus?

Leider überschattet der Krieg in der Ukraine die Situation in Afghanistan. Die Menschen fühlen sich vernachlässigt. Auch in Bezug auf die Evakuierungsmaßnahmen macht sich der veränderte Fokus der europäischen Außenpolitik bemerkbar. Unsere Organisation Yaar sammelte Daten von über 300 Fällen vor Ort – Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und ehemalige Regierungsmitarbeitende. Diese Datenbank leiteten wir an die Kabul Luftbrücke und das Außenministerium weiter. Allerdings gibt es aufgrund des Kriegs in der Ukraine momentan sehr wenig Kapazitäten. Ein Bundestagsabgeordneter versprach bei einem Treffen, an dem ich teilnahm, dass es in den nächsten Monaten ein neues Programm geben soll, um Menschen aus Afghanistan zu evakuieren. Wir hoffen dann ein paar von unseren Fällen voranbringen zu können.

 

Welche politische Agenda verfolgen die Taliban in Bezug auf Frauenrechte?

Entgegen anfänglicher Versprechungen verfolgen die Taliban eine ähnliche Politik wie 1996: So schickten sie die Schülerinnen noch am Tag der Wiedereröffnung der Schulen wieder nach Hause. An den Universitäten wurde zwar eine Geschlechtertrennung durchgesetzt, weiterführende Schulen sollen aber erst öffnen, wenn dort eine strikte Trennung garantiert werden könne. Alternative Lösungen wie versteckte Schulen oder Onlineunterricht sind leider nicht besonders effektiv. Ein Großteil der Bevölkerung hat nicht einmal Internetzugang.

Insgesamt schränken die Taliban den Zugang zu Bildung und Öffentlichkeit für Frauen mit jedem Tag weiter ein. Anfang Mai folgte nun ein Burka-Erlass, demzufolge sich alle Afghaninnen in der Öffentlichkeit voll verschleiern müssen.

 

Frauen haben gegen die Schließung der Schulen protestiert. Gibt es noch Hoffnung?

Die Taliban würden ihre Strategie nur auf Druck der internationalen Gemeinschaft oder Scharia-Experten ändern. Im Februar erklärte ein Sprecher des de-facto-Innenministeriums, dass Frauenaktivist*innen von Sicherheitsbehörden festgenommen wurden. Viele Aktivist*innen wurden ohne Prozess oder Zugang zu Rechtsbeistand in Haft genommen. Auch die Medien dürfen nicht über Proteste berichten. Das zeigt, dass die Frauenbewegung als echte Bedrohung für die de-facto-Autoritäten in Afghanistan wahrgenommen werden.

 

Wie wird es in Zukunft weitergehen?

Die Taliban werden weiterhin versuchen, ihre Macht im Land zu festigen, und zwar mit bewährten Methoden: indem sie die Medien, Frauenrechtsaktivist*innen oder zivilgesellschaftliche Gruppen unterdrücken und das Recht auf weiterführende Bildung verweigern. Sie wollen zurück ins Jahr 1996. Gleichzeitig suchen sie Ersatz für die Finanzierungsmöglichkeiten durch westliche Länder, die zuvor mit der afghanischen Regierung zusammengearbeitet haben. Gerade befinden sich Diplomaten der Taliban in Russland, Iran, China und Pakistan. Aber es gibt auch militärischen Widerstand von ehemaligen Regierungsfraktionen und wenn die Armut stärker wird, ist auch mit wachsenden Protesten im Land zu rechnen.

Die Chance auf eine Friedenskonsolidierung ist vertan. Die Taliban schließen alle anderen Gruppen aus der Regierung aus. Damit machen sie nun den gleichen Fehler, der schon während des Petersberg-Prozesses 2001 von den USA gemacht wurde.

 

Das Interview führte und übersetzte Michaela Frey.

391 | Krieg gegen die Ukraine
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