Sulaiman Addonia: Schweigen ist meine Muttersprache.
Welches Bild haben wir im Kopf, wenn wir über Geflüchtete sprechen? Oft überfüllte Lager an den EU-Außengrenzen. Diese Assoziation übersieht jedoch, dass 73 Prozent aller Geflüchteten in einem Nachbarstaat ihres Heimatlandes leben. Mit dem Schicksal der Menschen eines solchen Lagers fernab der EU beschäftigt sich Sulaiman Addonia in seinem neuen Roman.
Addonia, der selbst aus Eritrea geflüchtet ist, ermöglicht es so, sich durch seine literarisierten Erfahrungen mit der Realität eines ostafrikanischen Flüchtlingscamps auseinanderzusetzen. In Schweigen ist meine Muttersprache dürfen wir in die Welt von Saba, einer mutigen, jungen Frau, und ihrem stummen Zwillingsbruder Hagos eintauchen, die gemeinsam mit ihrer Mutter aus Eritrea in den Sudan flieht. Die Familie überlebt im Lager mit dem Nötigsten, immer in der Hoffnung auf Rückkehr.
Der Autor beschreibt, wie die Protagonist*innen die ihnen in der konservativen Gesellschaft zugeschriebenen Geschlechterrollen schon in Eritrea tauschen: Ihre Eltern schicken Saba anstelle ihres stummen Bruders zur Schule; der wiederum übernimmt die Arbeit im Haus. Im Flüchtlingslager werden die Identitäten und die sexuelle Selbstbestimmung der Geschwister immer wieder angezweifelt. Doch insbesondere Saba, aus deren Blickwinkel und mit deren Gedanken die Leser*innen das Leben im Lager verfolgen, möchte sich ihre Freiheit und Selbstbestimmung erhalten. Die Ironie, dass gerade sie am Anfang des Buchs wegen Missbrauch an ihrem Bruder angeklagt wird, grundiert die folgenden Berichte über Vergewaltigung, Missbrauch und konservative Rollenbilder.
Sulaiman Addonia lässt vieles in seinem Roman offen – auch wohin der Weg der Geschwister führen wird. Diese Offenheit erlaubt problematische Interpretationsmöglichkeiten, zum Beispiel, dass die Entscheidung der Eltern, welches Kind zur Schule gehen darf, die Entwicklung der geschlechtlichen und sexuellen Identität übergebührend bestimmt. Dadurch werden wiederum klassische Stereotype reproduziert. Und doch gelingt es dem Autor, ein poetisches und emanzipiertes Porträt von Saba zu zeichnen. Durch die Frage nach sexueller Selbstbestimmung der Geschwister, das selbstbewusste Agieren Sabas, ihren Wunsch nach Bildung oder mit der Randfigur der Tochter einer Freiheitskämpferin in Eritrea entwickelt der Autor eine feministische Erzählung. So ist »Schweigen ist meine Muttersprache« ein wichtiges und lesenswertes Buch.
Dorothea Schiewer
Sulaiman Addonia: Schweigen ist meine Muttersprache. Orlanda Verlag, Berlin 2021. 258 Seiten, 22 Euro.