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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 384 | Jugoslawien »Atomkraft und Mensch können nicht koexistieren«

»Atomkraft und Mensch können nicht koexistieren«

Zum Stand der Anti-Atom-Bewegung in Japan: Der Reaktorunfall von Fukushima vor zehn Jahren war Ausgangspunkt neuer Massenproteste in Japan. Inzwischen haben sich die Proteste eher in die Gerichte verlagert. Zahlreiche Klagen wurden eingereicht, viele Urteile stehen noch aus.

Es ist Frühjahr 2012. Etwas mehr als ein Jahr liegt nun die Dreifachkatastrophe mit Erdbeben, Tsunami und dem Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima zurück. Das Regierungsviertel Nagata-chô in Japans Hauptstadt Tokyo ist gerade im Begriff, sich zu einer Stätte der Massenproteste zu verwandeln, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Noch sind es nur einige Hundert, die mit Rufen wie »Genpatsu iranai« (»Wir brauchen keine Atomkraft«) oder »Saikadô hantai!« jeden Freitag vor dem Amtssitz des Premierministers »gegen die Wiederinbetriebnahme« von Atomkraftwerken demonstrieren, wie die sie Regierung plant. Bald kommen Tausende, und schließlich versammeln sich zur Zeit der Hortensienblüte im Juni 2012 bis zu 200.000 Atomkraftgegner*innen zu Protesten. Sie gehen als »Hortensien-Revolution« (Ajisai Kakumei) in die jüngere Geschichtsschreibung Japans ein.

Seit die Regierung um Premierminister Yoshihiko Noda nach einer Phase der Abschaltung und Überprüfung aller 54 in Japan stehenden Meiler im März 2011 beschlossen hat, zur Deckung des Strombedarfs im Sommer 2012 die Meiler 3 und 4 des Atomkraftwerk Ôi am Japanischen Meer wieder ans Netz zu bringen, haben sich etwa ein Dutzend Gruppen im Großraum Tokyo zu einer »Metropol-Koalition gegen Atomkraft« zusammengeschlossen. Hätte die zu jener Zeit noch regierende Demokratische Partei ihren eigenen Premierminister Naoto Kan im August 2011 nicht unter anderem deshalb aus dem Amt gedrängt, weil ihr dessen Wandlung zum Atomkraftgegner zu weit ging, wäre es dazu in dieser Form vielleicht nie gekommen.

Proteste aber gab es bereits vorher, in der Hauptstadt und überall in Japan. Den vom Noda-Kabinett für Ende der 2030er Jahre anvisierten Atomausstieg hielten die meisten für unglaubwürdig, da neue Meiler oder die Wiederaufbereitungsanlage in Rokkasho-mura weitergebaut werden sollten. Ohnehin wurde dieser, zusammen mit der Ankündigung der Wiederinbetriebnahme von Atommeilern verkündete Ausstiegsbeschluss der Demokratischen Partei von der Nachfolge-Regierung wieder rückgängig gemacht. In seiner Regierungserklärung vom 28. Februar 2013 versprach Premierminister Shinzô Abe von der zumeist in Japan regierenden Liberaldemokratischen Partei zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode das Ende des alten »Sicherheits-Mythos« und den Beginn einer »neuen Sicherheitskultur«.

 

Aktive Protestkultur

»Atomkraft ist sicher«: Ein Déjà-vu für viele Aktivist*innen im ganzen Land. Auch jenen überwiegend älteren Atomkraftgegner*innen, die bereits im September 2011 vor dem für Atomkraft zuständigen Wirtschaftsministerium ihre Zelte auf dem Bürgersteig aufgeschlagen und dann einfach nicht mehr abgebaut haben, klang diese Rhetorik vertraut. Manche protestierten schon vor über einem halben Jahrhundert – 1954 nach dem »Bikini-Zwischenfall« gegen die Wasserstoffbombe, dann gegen die Sicherheitsverträge mit den USA und gegen deren nukleare Implikationen. Bis zur Räumung des Platzes 2016 diente das »Atomausstiegs-Zelt« als Anlaufpunkt für Atomkraftgegner*innen im ganzen Land. Betroffene Mütter aus Fukushima klagten hier ihr Leid, buddhistische Mönche führten Hungerstreiks durch und regelmäßig wurden von hier aus über einen Internet-Sender Informationen weiterverbreitet. Noch heute beziehen dort an jedem Tag einige, überwiegend ältere, Frauen und Männer auf mitgebrachten Klappstühlen unverdrossen ihre Posten.

Die Aktionen in der Hauptstadt strahlten aus ins ganze Land. Wöchentliche Freitagsproteste haben in vielen Städten Schule gemacht, vor Bahnhöfen oder anderen strategisch günstigen Orten finden sie noch heute regelmäßig statt. Die Zahl der Veranstaltungen geht weiter jedes Jahr in die Tausende, auch wenn die großen Massen wie im Sommer 2012 heute nicht mehr mobilisiert werden. Dass aber der Widerstand gegen die Atomkraft, wie bisweilen in westlichen Medien berichtet wird, längst wieder gebrochen worden sei, ist nicht wahr.

Vortrags- und Informationsveranstaltungen gibt es immerzu überall im Land, Gedenkveranstaltungen, Demonstrationen oder Kundgebungen im Zusammenhang mit den Dutzenden anhängigen Gerichtsverfahren. Sie werden von Anwohner*innen und idealistischen Rechtsanwält*innen zumeist in Sammelklagen geführt, gegen den Bau oder den Betrieb von Nuklearanlagen überall im Land, für die Festschreibung von Verantwortlichkeiten, u.a. auch des Staates, an dem Atomunfall und für eine angemessene Entschädigung der Opfer.

 

Ein langer Atem

Sô Horie war kaum fünf Jahre alt, als am 6. August 1945 über seiner Heimatstadt Hiroshima die erste in einem Krieg gezündete Atombombe abgeworfen wurde. Er gehört zu den Hibakusha, den Atombomben-Überlebenden, von denen heute viele in Hiroshima und Nagasaki Zeugnis ablegen über den Albtraum, der ihnen einst widerfahren ist. »Atombombe und Atomkraft sind zwei Seiten einer Medaille«, sagt Horie, Co-Vorsitzender einer Kläger*innen-Gruppe, die gegen den Betrieb des über einhundert Kilometer entfernten AKW Ikata ein ums andere Mal vor Gericht zieht. Zwei Mal gelang es Kläger*innen-Gruppen vor dem Obergericht Hiroshima durch einstweilige Verfügungen einen Betriebsstopp zu erreichen – zuletzt wurde Mitte März 2021 eine solche Verfügung allerdings wieder aufgehoben.

»Japan ist ein gefährlicher Ort«, sagt Horie. »Es gibt über 50 Meiler hier und kein Endlager für den Atommüll.« Ganz zu schweigen von der Gefahr, die von Naturkatastrophen oder Terrorangriffen ausgehe. »Die Vergangenheit können wir nicht ändern, aber die Zukunft können wir verändern«, steht auf dem Banner, das er und seine Mitstreiter*innen bei Protesten hochhalten. Und: »Das vom Atombombenabwurf betroffene Hiroshima erlaubt keine Strahlenexposition durch Atomkraft«. Auf einem anderen Banner steht: »Atomkraft und Mensch können nicht koexistieren.«

54 Meiler an insgesamt 17 Standorten stehen auf dem japanischen Archipel, einem der sensibelsten Erdbeben- und Vulkangebiete der industrialisierten Welt. Die Zahl der Gemeinden, in denen nuklearen Avancen eine Absage erteilt worden ist, beträgt das Doppelte. Ein Beispiel dafür, dass Widerstand wirkt, ist die Gemeinde Obama in der Präfektur Fukui. Die Region wird häufig als die »Atomkraft-Ginza« bezeichnet, spöttisch benannt nach der Luxus-Einkaufsstraße in Tokyo. In den Orten Tsuruga, Mihama, Ôi und Takahama reihen sich auf einigen Dutzend Kilometern 15 Meiler aneinander. Auf der Tsuruga-Halbinsel kommt mit dem 2016 aufgegebenen Projekt des Schnellen Brüters Monju – nach dem Bodhisattva der Weisheit, Manjushri benannt – eine weitere nukleare Bedrohung hinzu. Aber irgendwo in der Mitte dieser Atomkraft-Straße, in Obama, dort wo in dem buddhistischen Tempel Myôtsû-ji der Mönch Tetsuen Nakajima lebt, ist das anders. Auch hier gab es seit Ende der 1960er-Jahre Bestrebungen, zuerst ein Atomkraftwerk und später ein Zwischenlager für radioaktiven Abfall einzurichten. Doch sie scheiterten immer wieder am Widerstand, den die örtlichen Atomkraftgegner*innen entfalteten. Zu den Gegner*innen gehörte von Anfang an auch Nakajima, dessen Tempel als nationales Kulturerbe geführt wird.

Als junger Mönch pflegte Tetsuen Nakajima Strahlenopfer aus Hiroshima. Als plötzlich auch in Japan von der friedlichen Nutzung der Atomkraft die Rede war und in schwach entwickelten Regionen überall Standorte für Atommeiler gesucht wurden, wurde auch Obama als Standort interessant. Die Gegner*innen brachten jedoch das Projekt, dem der Bürgermeister schon zugestimmt hatte, mit einer Unterschriftenaktion zum Scheitern. Mehr als die Hälfte der Bürger*innen hatte unterschrieben. Dort, wo die Gegenbewegung sich nicht durchsetzen konnte, also auch in den Nachbargemeinden von Obama, sieht Nakajima ein »System der Diskriminierung und Opferung« am Werke. Große Städte würden auf Kosten schwach entwickelter Regionen ihren Durst nach Elektrizität stillen. »Wenn ich als Buddhist tief nachdenke, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass die Atomkraft etwas ist, das starke wie schwache Menschen opfert. Daher kann ich als Buddhist Atomkraft umso weniger befürworten.« Überdies, so Nakajima, pflege Atomkraft die Regeln der Demokratie ins Gegenteil zu verkehren.

»Ich bin viel herumgekommen«, sagt Hisao Hashimoto, »aber einen Ort, der durch Atomkraft leuchten würde, habe ich nicht gefunden.« Der Segen des Atomkraft-Geldes sei meist rasch verflogen. Hashimoto ist auf der kleinen Insel Iwaishima in der Japanischen Inlandsee geboren. Als jungen Mann zog es ihn, wie viele seiner Generation, auf der Suche nach Arbeit auf das Festland. Für kurze Zeit war er auch im AKW Tsuruga beschäftigt, wo sich 1981 ein schwerer Unfall ereignete. Weil ihm klar geworden sei, dass Atomkraft zu viele Gefahren berge, habe er die Arbeit dort bald wieder beendet. Hashimoto ging mit Mitte 30 zurück auf die Insel, die heute noch rund 400 überwiegend ältere Einwohner*innen zählt. Wie sein Vater wurde er Fischer. Und auch Hashimoto reihte sich ein in die Gegenbewegung, die auf Iwaishima seit 1982 rund 1.400 Mal ihre Montags-Demonstrationen durchgeführt hat.

 

Klagen auf lange Sicht

Vom Ort aus schaut man direkt auf die vier Kilometer entfernte, für den AKW-Bau vorgesehene Bucht von Tanoura. »Wenn wir nichts unternommen hätten, wäre es längst gebaut«, sagt Hashimoto. Wann immer der regionale Energieversorger Chûgoku Denryoku Expert*innen in die Meerenge zwischen Iwaishima und der gegenüberliegenden Insel Nagashima entsandte, um Probebohrungen für die geplanten Landaufschüttungen vorzunehmen, wurden sie von Fischerbooten oder Kajaks behindert. Die Kommissionär*innen, die den Fischer*innen Kompensationszahlungen aufdrängen wollten, um ihren Widerstand zu brechen, wurden immer wieder brüsk zurückgewiesen. Und mehr als ein Dutzend meist mehrstufiger Gerichtsverfahren zeugen von einer permanenten rechtlichen Auseinandersetzung, der sich Kraftwerksbauer, aber auch Aktivist*innen ausgesetzt sehen.

Es ist ein Kampf um Natur, um Demokratie und Identität. »Als Fischgrund ist das hier der beste Ort. Es ist ein schönes Leben, es ist die Mühe wert. Wäre das Problem mit dem AKW nicht, es wäre ein glücklicher Ort«, sagt Hashimoto. Wann immer vor seiner Haustür die Erkundungsarbeiten für das AKW wieder aufgenommen werden sollten, will auch er in Zukunft stören, selbst wenn ihm dadurch hohe Schadenersatzforderungen drohen. »Ich fahre trotzdem hin.« Mittlerweile haben sich, aufgeweckt durch den Film »Das Geräusch des Flügelschlags der Bienen und wie die Erde sich dreht« (engl.: »Ashes to Honey«) der Regisseurin Hitomi Kamanaka über die Insel des Widerstandes, eine ganze Reihe jüngerer Bewohner*innen auf der Insel neu angesiedelt und dem Widerstand angeschlossen.

Eine Gegenbewegung gab es lange vor dem Atomunfall auch in Fukushima. Der Dichter Jôtarô Wakamatsu aus Haramachi, heute zu Minamisôma gehörend, schrieb schon in den 1970er Jahren über seine Zweifel an der Atomkraft und dem 25 Kilometer entfernten AKW Fukushima Daiichi. Später schloss er sich Klagen gegen das zweite Atomkraftwerk in der Region an, Fukushima Daini. Nach einem Besuch in Tschernobyl 1994 schrieb Wakamatsu in dem Gedicht »Die verschwundene Stadt«: »Sicherlich werden noch viel mehr Städte für immer vom Erdboden getilgt. Vielleicht steht uns unser Verschwinden bevor – heute.«

 

Wertlose Grenzwerte

Noch immer gibt es mehr als 40.000 Flüchtlinge aus den evakuierten Gebieten in der Nähe des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi. Dass die offiziellen Zahlen nicht viel höher sind, liegt daran, dass sich viele nach der Aufhebung von Evakuierungsanordnungen auf Basis einer ursprünglich nur für Katastrophenfälle geltenden 20-Millisievert-Regel als erlaubtem Grenzwert der jährlich zu tolerierenden Strahlenexposition aus finanziellen Gründen zur Rückkehr gezwungen sehen1. Wer sich und seine Kinder dieser Umwelt nicht aussetzen will, ist nun auf sich alleine gestellt. Die Verbitterung der Betroffenen ist groß. Mehrere Zehntausend Menschen sind daher in laufenden Gerichtsverfahren aktiv. Sie verlangen neben höheren Entschädigungen, dass auch die Verantwortung des Staates für den Atomunfall festgeschrieben wird. Zumindest das hat das Obergericht Sendai im Oktober 2020 mit dem ersten landesweiten Urteil in zweiter Instanz allerdings auch so entschieden. In einem anderen Verfahren kam das Obergericht in Tokyo Anfang des Jahres ebenfalls in zweiter Instanz zum gegenteiligen Schluss. »Wir wollen die Kosten für Atomkraft erhöhen. Wir streben eine Gesellschaft an, in der die Atomkraft keinen Platz mehr hat«, so beschreibt Takashi Nakajima, der Vorsitzende der in Sendai erfolgreichen rund 3.600 Mitglieder zählenden Nariwai-Sammelklage, die Prozessziele. Nariwai bedeutet Lebensunterhalt, gemeint ist jedoch die eigentlich utopische Forderung nach vollkommener Wiederherstellung der vormaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Rund 15.000 Menschen aus Fukushima haben sich darüber hinaus über eine »Vereinigung von Opfergruppen« des Atomunfalls (Hidanren) einem strafrechtlichen Verfahren angeschlossen, in dem im September 2019 drei angeklagte frühere TEPCO-Manager in erster Instanz freigesprochen wurden. Die Vorsitzende dieser Gruppe, Ruiko Mutô aus der Gemeinde Miharu, rund 40 Kilometer entfernt vom AKW Fukushima Daiichi, gehört zu jenen Aktivist*innen, die seit dem Atomunfall in Tschernobyl davor gewarnt haben, dass sich eine ähnliche Katastrophe auch in ihrer eigenen Heimat ereignen könne und die seither aktiv war. Sie war damals 33 Jahre alt und Sonderschullehrerin, als sie in ihrer Schule anregte, neben den regelmäßig durchgeführten Katastrophenschutz-Übungen wegen Bränden oder Erdbeben auch Evakuierungsübungen für den Fall einer Atomkatastrophe durchzuführen. »Was redest Du da«, hätten alle nur gesagt und sie ausgelacht. In Japan könne sich ein solcher Unfall wie in der Sowjetunion nie ereignen.

 

Anmerkung

1  Per Gesetz 2015 wurde der hohe Grenzwert für den Katastrophenfall zum Normalfall verstetigt. Der zuvor geltende und internationaler Konvention entsprechende Wert von 1 Millisievert wurde um das Zwanzigfache erhöht.

Literatur

Andreas Singler (2018): Sayōnara Atomkraft. Proteste in Japan nach ‚Fukushima’ (EB-Verlag Berlin), 2019 erschien im BoD-Verlag »Tokyo 2020. Olympia und die Argumente der Gegner«.

 

Andreas Singler ist Journalist, Japanologe und Sportwissenschaftler. Nach dem Atomunfall von Fukushima begann er mit Recherchen zur Anti-Atomkraft-Bewegung in Japan und zur Situation in Fukushima und forschte auch zur Akzeptanz der ursprünglich für 2020 geplanten Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokyo.

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