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»Das koloniale System blieb intakt«

Das Aktivist*innen-Kollektiv Lausan ( 流傘 heißt etwa »Regenschirme auf der ganzen Welt«) aus Hongkong verschreibt sich im Zuge der dortigen Proteste einer antikapitalistischen, dekolonialen Solidarität. Wir sprachen mit Aktivist*innen über ihre Arbeit.

Das Aktivist*innen-Kollektiv Lausan aus Hongkong verschreibt sich im Zuge der dortigen Proteste einer antikapitalistischen, dekolonialen Solidarität. Diese wird explizit als kritische Solidarität gesetzt: Denn weder eine kapitalismuskritische noch eine identitätskritische Positionierung sind bei den Protesten selbstverständlich.

 

Wai Ching: Die VR China prangert oft die nicht erfolgte Entkolonisierung als den Grund sämtlicher politischer Unruhen in Hongkong an. Hat sie Recht?

Lausan Collective: Nach unserer Überzeugung wurde Hongkong nie abschließend dekolonisiert. Dazu trug jedoch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) selbst erheblich bei, obwohl sie sich »antikolonial« gibt. Die gemeinsame chinesisch-britische Erklärung zu Hongkong (1984) steht exemplarisch für eine interimperiale Kollaboration, welche eine demokratische Selbstbestimmung Hongkongs blockierte. In den Jahren bis 1997 lobbyierten die KPCh sowie ihre Sympathisant*innen in der Hongkonger Wirtschaftselite aktiv beim kolonialen Regime, um Demokratisierungsschritte, wie etwa eine direkte Wahl des Legislativen Rates, zu verhindern.

Die Souveränitätsübergabe hat in Hongkong faktisch kaum eine Veränderung bewirkt. Das koloniale System der Kapitalakkumulation blieb intakt, mit all seinen materiellen und ideologischen Infrastrukturen. Aber leider verkörpern auch die jüngeren Proteste in Hongkong auf ihre Art eine koloniale Nostalgie. Kolonialismus ist kein Etikett, das auf die britische Herrschaft oder den chinesischen Autoritarismus festzunageln wäre. Er ist strukturell und ruft Paradoxien hervor. Während China koloniale Machtinstrumente (etwa das Ende 2019 von der HKSAR-Regierung in Anlehnung an das koloniale Notstandsgesetz erlassene Vermummungsverbot, Anm. d. R.) heranzieht, eignen sich auch Protestierende ideologische Elemente des Kolonialismus an. Solange sich die ökonomischen, politischen und mentalen Strukturen nicht ändern, gibt es solche Widersprüchlichkeiten.

 

Wie steht ihr zu dem geläufigen Argument: »Nicht alles im Kolonialismus sei schlecht gewesen, Kolonialismus habe die Bürger*innen in Hongkong doch mit einer liberalen Tradition zum Widerstand befähigt«?

Die Behauptung, eine »starke liberale Tradition« sei die Triebfeder der Proteste der letzten Jahre in Hongkong, ist falsch. Auch in China finden jährlich tausende Streiks statt, die aus der Unzufriedenheit mit lokalen Behörden entstehen, ohne sich dem illiberalen System vollkommen zu widersetzen. Hongkongs Freiheiten sind dem jahrzehntelangen Kampf von Aktivist*innen unter widrigen Umständen zu verdanken. Die eingeschränkte Demokratie im Legislativen Rat, die wir bis zum letzten Jahr noch hatten, ist eine Errungenschaft des Engagements demokratischer Aktivist*innen der 1980er- und 90er-Jahre. Die demokratische Reform des Gouverneurs Chris Patten begann erst 1994. Deren ohnehin fragile Zugewinne wurden von China bald wieder kassiert.

Gegenwärtig sind wir mit den Unzulänglichkeiten der liberalen Tradition konfrontiert. Die Abwesenheit grundsätzlicher Gesellschaftskritik zugunsten eines Minimalkonsens mag die große Protestallianz, wie im Fall des Protests gegen das Auslieferungsgesetz, zusammenhalten. Aber sie blendet alternative Strategien aus. Der Fokus auf Lobbyarbeit brachte uns symbolische Unterstützungen und unwirksame Sanktionsmaßnahmen auf Kosten der Zivilgesellschaft ein. Aber Kräfte wie die Arbeiter*innen und neue Gewerkschaften werden nicht effektiv eingebunden– deren Relevanz sehen wir aktuell bei den Protesten in Myanmar.

 

Gab es in Hongkong Bewegungen, die sich explizit mit der kolonialen Vergangenheit der Stadt auseinandersetzten?

Yun-chung Chen und Mirana M. Szeto weisen in ihrem Aufsatz auf den vergessenen »progressiven Lokalismus« der 2000er-Jahre hin, der eine antineoliberale Bewegung war, die sich klassenübergreifend der Dekolonisierung des kommerzialisierten öffentlichen Raums widmete.1 2006 wurde die Gruppe Lokale Aktion gebildet, die sich für die Erhaltung von Star Ferry Pier und Queen’s Pier einsetzte. Beijing-freundliche Zeitungen attestierten der Bewegung »koloniale Nostalgie«. Sieht man jedoch von deren Namen ab, so sind die zwei Anlegestellen Bestandteile kollektiver Erinnerungen. Sie waren Orte des Aufeinandertreffens von lokalen und eingewanderten Arbeiter*innen und sahen das Auf und Ab der sozialen Bewegungen. Als Aktivist*innen der Lokalen Aktion sich unter dem Banner »Farewell to Colonial Mindset, Reclaim Our City« vereinten, ging es ihnen um den Schutz dieser Erinnerungsorte gegen kapitalgetriebene Stadterneuerungsprojekte. Der Begriff Reclaim (Zurückerobern) verdeutlicht den Anspruch, die Orte durch politische und diskursive Bezugnahme aus dem kolonialen Status zu befreien und sie sich als Monumente der lokalen Erinnerungsorte anzueignen.

 

Identität spielt eine zunehmend wichtige Rolle in Hongkongs Politik. Wie inklusiv oder exklusiv kann eine Hongkong-Identität sein?

Es ist zunächst zwischen Inklusion, kategorischer Exklusion und taktischer Einbeziehung zu unterscheiden. In großen Ereignissen wie der Regenschirm-Bewegung oder dem 2019er-Protest waren Protestierende trotz strukturell tiefsitzendem Rassismus darauf bedacht, sich solidarisch mit ethnischen Minderheiten zu zeigen. Diese Einbeziehung von Minderheiten ist temporär und kann sich rasch dem Interesse der Mehrheitsgesellschaft unterordnen.

Neben ethnischen Minderheiten werden auch festlandchinesische Migrant*innen oft von einer Hongkong-Identität ausgeschlossen. Nach der Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes waren gar Gerüchte zu hören, dass die Festlandchines*innen bei den Behörden denunziert würden. Der Generalverdacht spiegelt eine tief verwurzelte Xenophobie und ein politisch-ethnisches Identitätsverständnis wider. Im Fall des »progressiven Lokalismus« wirkt die lokale Identität jedoch auch integrativ. Eine Hongkong-Identität ist keineswegs immer mit nativistischen, rechten Ideologien verbunden.

 

Wird euch vorgeworfen, dass ihr intellektuell abgehoben wärt, weil ihr euch für nicht unmittelbar umsetzbare Ziele einsetzt? Was antwortet ihr darauf?

In einer Stadt, in der die Herrschenden linke Diskurse hegemonial beherrschen, schwimmen die demokratischen Linken in besonderer Weise gegen den Strom. Graswurzel-Aktivismus der Linken war in Hongkong stets präsent und wurde schon oft marginalisiert. Als die trotzkistische Gruppe Aktion 5. April [im Jahr des Tiananmen-Platz-Massakers, Anm. d. R.] 1989 gegen die Nationalfeiertagsgala der chinesischen Presseagentur Xinhua protestierte und festgenommen wurde, stand selbst der Anführer der Demokratiebewegung, Martin Lee, auf der Seite der Polizei. Heute sind engagierte linke Aktivist*innen an den Fronten verschiedener Protestbewegungen zu sehen. Deshalb kann man Linken doch nicht Abgehobenheit vorwerfen.

Es ist an der Zeit, endlich auch linke Strategien ernst zu nehmen. Klar ist, Solidarität mit Festlandchines*innen und ethnischen Minderheiten ist kein reiner Idealismus. Eine Hinwendung zu den Arbeiter*innen ist kein Ablenken von akuten Repressionsdrohungen der KPCh. Die hegemoniale Stellung der KPCh in Hongkong wäre schließlich ohne eine effektive Kooptation der lokalen und festländischen Kapitalist*innen kaum denkbar. Wir müssen über politische und kulturelle Grenzen hinweg Allianzen bilden. Wir werden weiter neugegründete Gewerkschaftsstrukturen unterstützen, da sie eine der letzten konkreten Fronten des Widerstands sind. Die wachsende Diaspora-Gemeinschaft im Zeitalter des Nationalen Sicherheitsgesetzes ist eine weitere Zielgruppe, die wir einzubinden versuchen.

Anmerkung

1  Chen, Yun-chung; Szeto, Mirana M: The forgotten Road of progressive Localism. New Preservation Movement in Hong Kong, Inter-Asia Cultural Studies, 16 (3), 2015, 436–453.

 

Das Interview führte und übersetzte Wai Ching.

384 | Jugoslawien
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