Helon Habila: Reisen
Am seidenen Faden
Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans Reisen kommt mit seiner Frau Gina im Herbst 2012 nach Berlin. Beide sind gutsituierte Akademiker*innen, er, ein nigerianischer Promovend, der seit langem in den USA lebt, sie, Juniorprofessorin und Malerin. 2012 ist das Jahr der großen Flüchtlingsproteste in Deutschland: Dauerprotestcamps am Oranienplatz, Hungerstreiks in Würzburg und München und der legendäre Marsch nach Berlin. Auch Gina will von diesen Ereignissen für ihre Kunst profitieren. Für ihre Porträtserie sucht sie nach »echten« Migrant*innen, nach authentischen, vom Leben gezeichneten Gesichtern, um sie auf ihren Leinwänden zu verewigen. Durch die Arbeit seiner Frau kommt der Protagonist mit den in Berlin lebenden Geflüchteten und Migrant*innen in Kontakt. Und er ist neugierig, auch wegen seiner eigenen Herkunft. Wer sind diese Menschen, die in einer so anderen Welt leben als er selbst? Was hat sie hierhergeführt? Im Berliner Stadtrummel lässt er sich treiben und dringt dabei immer tiefer ein in die Lebenssituationen afrikanischer Geflüchteter und deren Unterstützer*innen. Nach einem zunächst einfach verlaufenden Erzählstrang wirft Helon Habila seine Leser*innen dann in ein Mosaik an Geschichten voller Tragik und Hoffnung.
Da ist Mark, ein malawischer Filmstudent, der sich politisch mühelos in eine deutsche Hausbesetzerszene einfügt, getrieben vom Wunsch »Kunst und Leben eins werden zu lassen«. Ein ruheloser Charakter, der vor seinem alten Leben und der konservativen Familie in der Heimat flüchtet und die Widersprüchlichkeit und Härte des deutschen Aufenthaltsrechts zu spüren bekommt. Und da ist der schwarze Libyer Manu, der sich gleichsam an sein altes Leben vor der Flucht klammert und nicht den Glauben daran verlieren will, dass seine im Mittelmeer verloren gegangene Familie ihn eines Tages findet. Oder der Nigerianer Juma, dessen Flucht auch in der EU nie endet, der irgendwann täglich flüchtet, von einem Versteck vor Abschiebung in das nächste, und der bald gar keinen Ort und keine Sehnsucht mehr hat.
»Wo bin ich? Wer bin ich? Und wie bin ich hierhergekommen?« sind die Fragen, welche die Mosaiksteine der Geschichten verbinden. Eindrücklich führt Habila die Leser*innen in eine Realität der Flucht, in der ein Ereignis zum nächsten führt. In dem Menschen, auch durch das Asylsystem der EU, durch Gewalt, Rassismus und ihre prekäre materielle Situation, immer mehr zu dem werden, wie man sie benennt. Sie stellen irgendwann fest, wie Juma es formuliert: »Ich war ein Flüchtling geworden.« In einer fantastisch anmutenden erzählerischen Wende erlebt sodann auch der Protagonist selbst, an welch seidenen Fäden die Existenz und Identität eines Menschen hängen können wenn er aufgrund seiner Herkunft und Hautfarbe als nicht zugehörig definiert wird – egal, ob gut situiert oder nicht.
Nach »Öl auf Wasser« (siehe iz3w 335) ist »Reisen« Habilas zweiter, ins Deutsche übersetzter Roman. Habila, der in den USA lebt und in Nigeria geboren ist, war als Stipendiat selbst im Rahmen eins Kunstprogramms 2013 in Berlin. An der Beschreibung linker Berliner Aktivist*innen, einer 1. Mai-Demo oder des Flüchtlingslagers in Calais zeigt sich eine fundierte Recherche über die verschiedenen europäischen Schauplätze des Romans. Und zudem ein sehr gutes Gespür für Milieus und Charaktere. »Reisen« ist dicht und spannend erzählt. Durch den Wechsel von Geschichten wird der oder die Leser*in immer wieder in ein neues Setting geworfen. Der Roman vereint eine Vielfalt an realistisch dargestellten Fluchtgeschichten und das komplexe Spektrum damit verbundener Erfahrungen und Gefühlswelten. Gleichzeitig stellt Habila auch die Seite der Helfenden, ihre zum Teil zweifelhaften Antriebe, aber auch ihre essentiell notwendige Solidarität dar. Spannungsreich und bewegend führt einen der Roman auf eine Reise des Zuhörens, Verstehens und Mitfühlens.
Patricia Reineck
Helon Habila: Reisen. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2020. 314 Seiten, 25 Euro