Othmann, Ronya: Die Sommer
»In Syrien ist es kalt«
Bis vor kurzem war Ronya Othmann Ko-Autorin der taz-Kolumne »OrientExpress«. Mit ihrem Romandebüt Die Sommer hat sie nun ein fesselndes und literarisches Zeugnis über die Hölle des syrischen Bürgerkriegs und den Genozid an den Jesid*innen durch den sogenannten Islamischen Staat vorgelegt. Othmann studiert am Literaturinstitut Leipzig wie schon andere erfolgreiche zeitgenössischen Autor*innen wie Olga Grjasnowa oder Saša Stanišić vor ihr. Wie Grjasnowas Werk »Der Russe ist einer, der Birken liebt« (2012) und Stanišićs Bestseller »Herkunft« (2019) ist auch Othmanns Roman autofiktional, und auch er beschäftigt sich mit multiplen kulturellen und nationalen Identitäten: »Bist du mehr deutsch oder kurdisch, fragte die Mutter der Schulfreundin. Deutsch, sagte Leyla, und die Mutter der Schulfreundin wirkte zufrieden. Fühlst du dich mehr deutsch oder kurdisch, fragte Tante Felek. Kurdisch, sagte Leyla, und Tante Felek klatschte vor Freunde in die Hände.«
Das Buch erzählt von einer jungen Frau, die bei ihrer praktisch veranlagten deutschen Mutter und ihrem kämpferischen kurdischen Vater in Bayern lebt. Im Sommer fliegt die Familie alljährlich in den syrischen Teil Kurdistans, ein Land, das es so eigentlich gar nicht gibt. Leylas deutsche Mitschüler*innen haben allerdings bereits mit der Existenz Syriens Probleme: »Syrien kannten die meisten Kinder nicht, eine Mitschülerin verwechselte es mit Sibirien. Als Leyla sagte, es war sehr heiß in Syrien, sagte die Mitschülerin: Nein, in Syrien ist es kalt.«
Leyla genießt die heißen Sommer im Dorf der Großeltern. Sie lernt von ihrer Großmutter die Rituale des Jesidentums, macht aber die Erfahrung, dass ihr Leben in der Diaspora sie durch ihr Verhalten und ihre Sprache von den anderen jesidischen Kindern unterscheidet. Insbesondere von Zozan, ihrer gleichaltrigen Cousine. Zozan hält Leyla, die am liebsten liest, für ungeschickt und das Interesse an ihr einzig ihrem deutschen Pass und den damit verbundenen Privilegien geschuldet.
Mit dem Aufstand gegen den Diktator Baschar al-Assad und dem Beginn des Bürgerkriegs enden die Sommerurlaube in Kurdistan plötzlich. Schnell verfliegt auch die anfängliche Euphorie von Leylas Vater – und damit für alle die Hoffnung auf positive Veränderung in Syrien. Bald sitzt der Vater abends apathisch vor dem Fernseher, in dem täglich die Bilder von neuen Toten flimmern. Während in Syrien die Verwandtschaft vom Genozid bedroht ist, führt Leyla gemeinsam mit ihren Freund*innen in Deutschland ein normales Leben. Ihr Schulabschluss, ihr Studium und ihre Liebesbeziehungen sind überschattet von Angst um die Familie in Kurdistan, Hilflosigkeit und Zerrissenheit. Letztlich fasst sie, die vom Vater bewusst in Erinnerung an getötete und gefangene kurdische Kämpferinnen Leyla genannt wurde, einen folgenreichen Entschluss.
Der Roman zeichnet sich durch exzellente Beobachtungsgabe und detaillierte Schilderungen aus. So reflektiert Othmann die Kategorien Klasse, Geschlecht, Sexualität, Religion und Ethnizität stets intersektional. Dies geschieht etwa, wenn sie den Rassismus thematisiert, der Kurd*innen und Jesid*innen in Deutschland sowohl von der weißen Mehrheitsgesellschaft als auch von türkischen Nationalist*innen entgegenschlägt. Oder wenn sie über Leylas geflüchtete kurdische Familienmitglieder schreibt: »In der Familie des Vaters arbeiteten alle auf dem Feld, und in Deutschland dann auf dem Bau, oder, wenn sie vorangekommen waren, in eigenen Dönerbuden. Die Verwandten des Vaters hatten rissige Hände, krumme Rücken, verhärmte Gesichtszüge. Sie rauchten fast ausnahmslos, rauchten zu Hause, rauchten auf dem Weg zur Arbeit, rauchten in allen Arbeitspausen. Ihre Körper waren ihr Werkzeug, das bald schon Spuren von Abnutzung und Verschleiß trug.«
Patrick Helber
Ronya Othmann: Die Sommer. Carl Hanser Verlag, München 2020. 288 Seiten, 22 Euro.