Helge Schwiertz: Migration und radikale Demokratie. Politische Selbstorganisation migrantischer Jugendlicher in Deutschland und den USA
Aus dem Schatten treten
Unter dem Eindruck vermehrter Migration stellen sich der deutschen Gesellschaft viele Fragen, beispielsweise nach »Integration« sowie nach kultureller und politischer Teilhabe von Migrant*innen. Häufig werden diese Fragen aus Sicht der »empfangenden« Gesellschaft formuliert: Wie wollen »wir« mit »denen« umgehen? Helge Schwiertz dreht diese Perspektive in seinem Buch um. Zur Sprache kommen migrantische Jugendliche in den USA und in Deutschland. Thema ist dabei insbesondere ihr Engagement für ein neues Demokratieverständnis und ihre Vorstellungen für eine postmigrantische Gesellschaft.
Im Kern des Buchs steht die umfangreiche Analyse zweier politischer Gruppen migrantischer Jugendlicher: Jugendliche ohne Grenzen (JoG) auf der deutschen und California Immigrant Youth Justice Alliance (CIYJA) auf der amerikanischen Seite. Interviews mit Gruppenmitgliedern sowie die Dokumentation ihrer Arbeit werden von Schwiertz mit radikaler Demokratietheorie in Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Jacques Rancière und Étienne Balibar zusammengeführt.
Die Fallbeispiele zeigen, dass Demokratie weit mehr ist als die Teilnahme an Wahlen. Sie zeigen, dass die Kämpfe der migrantischen Jugendlichen um Rechte und Teilhabe an existierenden Ordnungen rütteln. Eine Jugendliche bei JoG stellt fest: »Demokratie ist, was für eine gilt, muss auch für alle gelten«. Schwiertz berichtet von der Praxis des »Coming out of the shadows«, bei der Jugendliche ohne Papiere öffentlich über ihre Lebensumstände in Kalifornien berichten, singen oder rappen – und damit eine Abschiebung riskieren. Sie treten damit aber »aus dem Schatten« heraus, verweisen auf die Brutalität des Migrationssystems und können Verbündete für ihre Sache gewinnen. Sie machen sich sichtbar und zeigen, dass sich die Dinge ändern müssen: Migration ist eine Tatsache und Ausschluss ein Problem, dem unzählige Menschen existenziell ausgeliefert sind.
Das Auftreten gegen diesen Ausschluss ist somit laut Schwiertz eine mutige Selbstermächtigung: »Durch ihre Selbstorganisierung erschaffen migrantische Jugendliche eine Bühne, auf der sie als Betroffene und zugleich als politische Subjekte erscheinen. Sie sind es, die ihre Stimmen erheben, die ihre gemeinsam entwickelten Forderungen zur Sprache bringen, die ihre Körper einsetzen, um Rechte zu erlangen.« Da die politischen Kulturen in den USA und in Deutschland recht unterschiedlich sind, ist es umso erstaunlicher, »dass die Selbstorganisierungen für sich genommen mit sehr ähnlichen Strukturen, Praxen und Erfahrungen einhergehen«.
Das ist die große Stärke des Buchs: Es vergleicht, ohne zu essenzialisieren. Es nimmt sich den Raum, analytisch in die Tiefe zu gehen und aus der Untersuchung praktischer Beispiele Erkenntnisse für die Theoriebildung zu entwickeln. Jedoch wird das Buch dadurch sehr voraussetzungsvoll und ist eher für Menschen mit Theorieaffinität oder Fachwissen geeignet. Für dieses Publikum hat Schwiertz ein Buch verfasst, an dessen Ende »die Reflexion von möglichen Anfängen« steht, die Demokratie weiter zu denken.
Janika Kuge
Helge Schwiertz: Migration und radikale Demokratie. Politische Selbstorganisation migrantischer Jugendlicher in Deutschland und den USA. Edition Politik: Band 80. Transcript, Bielefeld 2019. 398 Seiten, 34,99 Euro.