Ein Schritt voran, drei zurück - die türkische Frauenbewegung
von Sabine Küper-Büsch
Im südostanatolischen Batman findet die Demonstration zum Internationalen Frauenkampftag in einer Grünanlage im Stadtzentrum statt, die eigens den Namen »8. März Frauen-Park« trägt. Das Frauen-Gremium der prokurdischen Demokratiepartei des Volkes (HDP), die den Bürgermeister stellt, hat kostenlose Busfahrten für Frauen aus der gesamten Region organisiert. Sie tanzen und jubeln den Parteifunktionärinnen zu.
Dilan Dirayet Taşdemir, Abgeordnete des Wahlkreises Ağrı im Osten, ist die erste Rednerin. Sie fordert, der grassierenden Gewalt gegen Frauen mit der gleichen Entschlossenheit zu begegnen wie die kurdischen Kämpferinnen, die in Syrien und im Irak gegen den ›Islamischen Staat‹ gekämpft haben. Sie wettert gegen den frauenfeindlichen Duktus der islamisch-konservativen türkischen Regierung und verbindet geopolitische Themen ganz selbstverständlich mit persönlichen Belangen, wie der Wichtigkeit der Bildung ihrer Töchter. Die Frauen lassen immer wieder ein schrilles kehliges Trillern ertönen und bestimmen die Geräuschkulisse im Zentrum der in der Nähe der iranischen, irakischen und syrischen Grenze liegenden Provinzhauptstadt. Trotz der Repression gegen die HDP auf Landesebene hält sich die durch Sicherheitskräfte repräsentierte Staatsmacht in Batman deutlich zurück.
Ganz anders sah es in Istanbul aus. Bereits 2019 war der Protestmarsch am Frauenkampftag verboten worden und die trotzdem Demonstrierenden wurden mit Tränengas und Festnahmen drangsaliert. Für weltweites Aufsehen sorgten auch die polizeiliche Repression bei der Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen am 25. November und die Inhaftierung von Protestierenden Anfang Dezember 2019, die eine Performance des chilenischen Kollektivs Las Tesis, »Der Vergewaltiger bist du«, in Istanbul öffentlich aufgeführt hatten.
In diesem Jahr verkündete der Gouverneur der Zwanzig-Millionen-Stadt erst am Nachmittag des 8. März ein Verbot des traditionellen Nachtmarsches auf dem Istiklal-Boulevard und ließ die nahegelegenen U-Bahn-Stationen sperren. Spezialeinheiten der Polizei attackierten erneut Gruppen mit Tränengas und schüchterten mit Festnahmen am Taksim-Platz ein. Bis spät in die Nacht ließen Frauen dennoch nicht locker und schafften es immer wieder, Transparente zu zeigen und Fotos in sozialen Medien zu teilen.
Emanzipation als zentrales Thema
Die Frauenbewegung in der Türkei eint in diesen Tagen eine unermüdliche Bereitschaft, sich Repressionen entgegenzustellen und für gemeinsame Ziele zu kämpfen. Die feministische Bodrumer Solidaritätsplattform für Frauen (BKD) zitiert eine Umfrage, laut der 80 Prozent der Befragten besonders großes Vertrauen in die Frauenbewegung hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungen haben. Frauenemanzipation wird von allen politischen Bewegungen als zentrales Thema verstanden.
Gleichzeitig folgt die Zentralisierung der politischen Macht in der Türkei sich immer wieder ändernden Maximen, was die Inhalte von Frauenpolitik betrifft. Die islamisch-konservative Regierungspartei für »Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) verabschiedete im Rahmen der Aufnahme von Konsolidierungsgesprächen mit der EU in den 2000ern umfassende Reformen. Vieles verbesserte sich, auch wenn die Umsetzung von Frauenrechten ein Kritikpunkt blieb.
Seit 2018 regiert Präsident Recep Tayyip Erdoğan allerdings per Dekret als omnipotentes Staatsoberhaupt. Themen wie Schwangerschaftsabbruch, die Strafverfolgung von Ehebruch und das Mindestalter für Eheschließungen werden immer wieder genutzt, um erbitterte Debatten auszulösen. Bedri Gencer, reaktionärer Professor an der Yidiz Teknik Universität in Istanbul, twitterte nach einem schweren Erdbeben in der ostanatolischen Provinz Elazığ Ende Januar 2020, es sei die Strafe für das Verbot von Kinderehen und für die Abschaffung der Strafverfolgung von Ehebruch. Nachdem sein Tweet eine Protestwelle ausgelöst hatte, leitete die Universität eine Untersuchung ein, die aber folgenlos blieb.
Die gewaltsame Niederschlagung von Demonstrationen gehört zur Inszenierung paternalistischer Macht, kritisieren Frauenrechtlerinnen. »Es geht um die Kontrolle des öffentlichen Raumes und der Demonstration von Richtungstreue zur Zentralmacht«, unterstreicht die Politikwissenschaftlerin Mine Eder. »Vor allem in Krisenzeiten werden Werte wie Familie und Nation in der Türkei gleichgesetzt.«
Feminizide bleiben straflos
Die Religion dient als moralische Instanz, die nach Bedarf genutzt wird. Das Amt für religiöse Angelegenheiten, Diyanet, unterstützte etwa mit Verurteilung von Gewalttaten im Namen der ‚Ehre‘ in der Vergangenheit den zeitweiligen reformerischen Kurs der Regierung. Seit der Einführung des Präsidialsystems 2018 untersteht es wie alle staatlichen Institutionen dem Amt des Präsidenten und verfolgt einen konservativen Kurs. Diyanet-Präsident Ali Erbaş sorgte für Proteste, als er 2019 auf einer Konferenz im ostanatolischen Adıyaman verkündete, die Aufgabe der Frau in der Gesellschaft sei, ihrem Mann zu dienen. Dazu wurde ein Kurzfilm gezeigt, in dem eine junge Frau in langem Mantel und mit Kopftuch ihrem mit dem Mobiltelefon hantierenden Mann einen Tee serviert. Im Falle häuslicher Gewalt empfiehlt das Amt Ehefrauen, ihre Stimme nicht zu erheben, demütig nach den Gründen der Misshandlung zu fragen, im direkten Dialog statt mit Hilfe von außen zu operieren und abends seine Lieblingsspeise zu kochen.
Solche Ratschläge stehen im Widerspruch zu gültigem Recht. Juristische und gesellschaftliche Realität klaffen aber immer mehr auseinander, warnt die Anwältin Evrim Inan, Aktivistin der Bodrumer Solidaritätsplattform für Frauen. Die Spirale der Gewalt gegen Frauen schraube sich in die Höhe. Während 2002 die offizielle Zahl der Morde an Frauen 66 betrug, waren es 2010 alarmierende 474. Ein wichtiger Faktor sei die Opfer diskriminierende, sexistische Rechtspraxis: »Unangepassten Ehefrauen und sexuell aktiven Singles wird als Opfern ganz schnell eine Mitschuld attestiert. Bei Gewalttaten an LGBTI greifen fast automatisch Schuldausschließungsgründe aufgrund der sexuellen Identität des Opfers.«
Inan versucht vor Gericht immer wieder die Istanbul-Konvention zur Anwendung zu bringen. Dieses Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde 2011 in Istanbul ratifiziert. Der völkerrechtliche Vertrag schafft verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. In der Türkei trat er bereits 2014 in Kraft, vier Jahre früher als in Deutschland. Auf die Rechtspraxis hat der Vertrag aber kaum Einfluss, beklagt Evrim Inan. Für Gewaltopfer etwa herrschten laut Konvention strenge Regeln. Sie dürfen nur im Beisein von Psycholog*innen in geschützten Räumen vernommen werden. In der Regel würden die Opfer aber zur Hauptverhandlung vorgeladen und müssten in der Öffentlichkeit und im Beisein des Täters ihre Aussagen machen. »Die Rechtspraxis schützt die Täter, nicht die Opfer, und folgt einer patriarchalischen Doktrin, die durch Politiker und staatliche Institutionen vertreten wird.«
Beharrlich Widerstand leisten
Evrim Inan und andere betonen mit Blick auf Missinterpretationen aus dem Ausland, dass nicht die Religion, der Islam, diese Entwicklung maßgeblich beeinflusst, sondern die politischen Machthaber. Bezüglich der Frauenbewegung liegt darin momentan eine Chance, denn ihre gesellschaftliche Wirkung ist enorm und flächendeckend. Die Frauen in der islamisch-konservativen Bewegung partizipieren zwar nicht gleichwertig mit Männern an der politischen Macht, sie teilen aber viele der feministischen Haltungen in frauenpolitischen Fragen und haben Einfluss sowohl an der Basis als auch innerhalb der Partei. Momentan wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der die Wiedereinführung der früheren Straffreiheit von Vergewaltigungen im Falle einer Heirat des Opfers mit dem Täter vorsieht. »Erst vor kurzem haben Frauen aus der AKP sich entrüstet der Zustimmung der männlichen Abgeordneten für diese Gesetzesregelung entgegengestellt und sie offen der Lüge bezichtigt, was die angebliche Zustimmung in der Partei betrifft«, so Evrim Inan.
Unter dem Strich steht eine starke, gesellschaftlich akzeptierte Frauenbewegung einem Machtapparat gegenüber, der sie sporadisch unterstützt, sie aber lieber paternalistisch überlagert und in der Praxis gern sabotiert. Frauen haben etwa bis zur zwölften Schwangerschaftswoche das Recht auf Abtreibung, finden aber keine staatlichen Krankenhäuser, die diese vornehmen. Die Gesetzgebung für Unterhaltszahlungen hat sich für Frauen verbessert, dafür werden sie öfter Opfer ihrer Ex-Partner. Evrim Inan: »Die Frauenbewegung bringt die Regierung in der heutigen Zeit dazu, einen Schritt voranzugehen, dann springt sie aber drei Schritte zurück. Dem stellen wir Feministinnen uns mit Widerstand und Beharrlichkeit entgegen.«
Sabine Küper-Büsch lebt als Dokumentarfilmerin in Istanbul.