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Alles oder nichts

Der rot-schwarze Faden der Geschichte

Frühere Vorstellungen von sozialer Revolution, von einer von Kapital und Herrschaft befreiten Gesellschaft muten heute oft als Relikt vergangener Zeiten an. Und doch zeigen sich weltweit immer wieder Risse in den Herrschaftssystemen und es entstehen neue soziale Bewegungen. Unser Autor plädiert dafür, die Systemfrage neu zu stellen.

von Christopher Wimmer

Wir leben in einer Zeit, in der das Ende der Welt leichter vorstellbar ist als das Ende des Kapitalismus. Ein hoffnungsloser Satz. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus nach 1989 gibt es keine reale Alternative mehr zum kapitalistischen Weltsystem. Nicht einmal mehr der miefige Sozialismus des Ostblocks kann noch als Bezugspunkt für eine andere Gesellschaft herhalten. Ein konkreter antikapitalistischer Gegenentwurf ist nirgendwo zu finden. Mittlerweile ist es sogar fast unmöglich geworden, sich eine kohärente emanzipatorische Alternative zum Kapitalismus überhaupt noch vorzustellen.

Kapitalistische Gesellschaften zeichnen sich seit jeher durch Profitmaximierung und die Aneignung fremder Arbeitskraft aus. Neben die Unerträglichkeit, dass die meisten Menschen ihre Zeit für Lohnarbeit verkaufen müssen, um überhaupt überleben zu können, tritt deutlich sichtbar auch die Herrschaft über Menschen und die Umwelt zutage. Die Verfügungsgewalt über Menschen äußert sich in patriarchalen Geschlechterverhältnissen, in der modernen Sklaverei sowie im allgegenwärtigen Rassismus, von dem Mordanschläge ebenso zeugen wie das Massengrab Mittelmeer. Die pervertierte Naturbeherrschung erscheint nicht erst in Katastrophen wie Fukushima, sondern in jedem Kohlekraftwerk und jedem Kurzstreckenflug.

Innerhalb dieser kapitalistischen Weltordnung mit ihrer (Klassen-)Herrschaft, ihrer ungeheuren Ansammlung von Waren und ihren tödlichen Grenzen greift jede Reform zu kurz. Daher wird auch jede Hoffnung auf die bestehenden Organisationen der Linken enttäuscht werden. Die alten Formen der Arbeiter*innenbewegung – Gewerkschaften und Parteien – liegen im Sterben. Zusammen mit vielen NGOs stellen sie sich heute immer mehr als bürokratische Gebilde dar, deren erstes Ziel darin besteht, sich selbst auf dem politischen Feld zu behaupten und Macht auszuüben, nicht etwa darin, Inhalte durchzusetzen.

Krise des Sozialen

Doch steckt das System der repräsentativen Demokratie, die Delegierung der Macht mittels Stimmabgabe, aktuell selbst in einer tiefen Krise. Diese Krise der Repräsentation ist nicht nur mit dem Desinteresse der Wähler*innen an den Parteien zu erklären, sondern sitzt tiefer. Vielleicht schwindet gerade der Glaube an dieses System, das jahrzehntelang als alternativlos verkauft wurde. In diese Richtung weisen in den letzten Jahren die politischen Bewegungen neuen Typs, wie die Indignados in Spanien oder Nuit Debout oder die Gilets Jaunes in Frankreich. Sie haben das herrschende System herausgefordert, indem sie eine neue Form des Zusammenlebens und der politischen Artikulation verlangten.

Diese Repräsentationskrise ist verbunden mit einer Krise des Sozialen. Jahrzehntelang wurde die Mehrheit der Bevölkerungen in den westlichen Industriestaaten durch einen relativ starken Sozialstaat an das System gebunden und hatte wenig Grund für eine umfassende Transformation der Verhältnisse. Hinzu kam, dass durch die bloße Existenz einer sozialistischen Welt der Kapitalismus noch nicht zu all den Schweinereien im sozialen Bereich bereit war, die er sich aktuell anschickt durchzusetzen. Heute können weltweit alle Prekarisierten und in Armut gestoßenen Menschen ein trauriges Lied von Sozialabbau und Austeritätspolitik singen.

Sogar die bescheidene Hoffnung, die der Klassenkompromiss des Keynesianismus mit sich gebracht hatte, wonach es auch die subalternen Klassen zumindest zu Fernseher, Kühlschrank und Gebrauchtwagen bringen können sollten, scheint verloren. Und auch die Aussichten all der Arbeiter*innen und Angestellten, die noch nicht ganz unten angekommen sind, sind trübe. Die zunehmende soziale Ungleichheit bringt die Illusion des Konsenses, der Leistungsgesellschaft und des sozialen Aufstiegs immer weiter ins Wanken. Dass die Lage für viele Menschen fatal und hoffnungslos ist, zeigten beispielsweise die Ausschreitungen in den Pariser Vorstädten 2005, die Riots in London 2011 sowie die militanten Aktionen der Gelbwesten in Frankreich, aber auch die aktuellen Aufstände in Hongkong und Chile.

Diese Vielfachkrisen bringen eine Wahrheit wieder ganz unvermittelt auf den Tisch: Es geht, so phrasenhaft es auch klingen mag, radikal ums Ganze. Dabei wird eine altbekannte Erkenntnis zunehmend zur alltäglichen Realität vieler Menschen: So wie es ist, kann es nicht weitergehen. Mittlerweile weiß man das nicht nur, es gibt auch keine Möglichkeit mehr, es zu leugnen. Nicht weniger als die Revolution gehört auf die Tagesordnung.

Doch analysiert man nüchtern die Verhältnisse – gerade in der BRD –, erscheint nichts unwahrscheinlicher als eine Revolution. Während sich zwar weltweit Aufstände häufen, herrscht in Deutschland weiterhin Friedhofsruhe. Doch ein solch notwendiger Wirklichkeitssinn, der die Gegenwart beschreibt, sollte nicht den Möglichkeitssinn verhageln. Wer diesen Sinn besitzt, sagt mit Robert Musil »beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen. (…) So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht weniger zu nehmen als das, was nicht ist.«

Die Kämpfe miteinander verbinden

Denen, die eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft für unrealistisch hielten, schrieb Rosa Luxemburg bereits rund 40 Jahre vor Robert Musil ins Stammbuch, dass sich »ein äußerst wichtiger Punkt verdunkelt hat, nämlich das Verständnis von der Beziehung zwischen unserem Endziel und dem alltäglichen Kampfe.« Ihre Rede auf dem Stuttgarter Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1898 lässt sich auf die Situation im 21. Jahrhundert übertragen. Dort fragte sie zunächst nach den konkret-praktischen Kämpfen der sozialdemokratischen Bewegung und unterschied drei Bereiche: »den gewerkschaftlichen Kampf, den Kampf um die Sozialreform und den Kampf um die Demokratisierung des kapitalistischen Staates.« Diese drei Arten Politik zu machen finden sich auch heute in Gestalt von Gewerkschafts-, Partei- und Bürgerrechtspolitik wieder.

Luxemburg argumentiert nun, dass diese Bereiche, wenn sie isoliert werden, nie zu irgendeiner Art von befreiter Gesellschaft führen können. Sie können der Befreiung unter Umständen sogar entgegenarbeiten und identisch werden mit ihren Gegner*innen. Auch dies lässt sich leicht aktualisieren: die Gewerkschafterin, die sich gegen Umweltschutz stellt, der Parteipolitiker, der soziale Errungenschaften gegen Migrant*innen verteidigen will, der Autonome, der Geschlechterverhältnisse zum ›Nebenwiderspruch‹ erklärt.

All dies macht es notwendig, Politik neu zu denken und sich einer Politik zuzuwenden, die nicht versöhnt werden kann mit den herrschenden Verhältnissen und sich nicht den gesellschaftlichen Spielregeln und Spaltungen beugt. Den emanzipatorischen Charakter der Bewegung kann nach Luxemburgs Ansicht »nur die Beziehung jener drei Formen des praktischen Kampfes zum Endziel« bilden. Dieses Ziel ist die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft. Dies ist die Voraussetzung für die Entfaltung des menschlichen Potentials hin zu einer Vielfalt von befreiten Lebensformen und -weisen.

Unvorhergesehene Konstellationen

Für die Linke gilt es ins Gespräch zu kommen: Viel zu häufig wissen die Akteur*innen der einzelnen (Klassen-)Kämpfe nichts voneinander, stehen isoliert nebeneinander und können nicht auf gegenseitige Erfahrungen bauen. Es gilt, einen Suchprozess zu starten, mit vorsichtigen Tastbewegungen auszuloten, wie linke Gegenmacht und Klassenkampf vonstattengehen und wie voneinander gelernt werden kann, indem verlorengegangene Verbindungen und Beziehungen wiederhergestellt werden.

Eine solche Erzählung des Widerstands gegen Unterdrückung muss notgedrungen ein Fragment bleiben. Zu vielfältig sind die Ansätze, zu unterschiedlich die Aktionen und zu breit der theoretische Bezug. Häufig geht es auch um Praktiken und Vorstellungen, die auch innerhalb linker Bewegungen oppositionellen Charakter besaßen und daher nicht selten unterdrückt wurden. In unserem Sammelband »Where have all the Rebels gone?« versuchen wir, die Geschichte(n) jener zu erzählen, die nicht in die Raster herrschender Vorstellungen passen, gleich ob sie parteipolitischer oder linksradikaler Art sind. Die Streifzüge sollen den Blick lenken auf all jene, die widerständige Praktiken umsetzen und leben.

Die Ideen der Befreiung laufen nicht linear. Mal zeigt sich die Vorstellung von linker Gegenmacht in einem kleinen mexikanischen Dorf, mal in einem besetzten Haus in Athen oder in einer Streikaktion von Frauen in Argentinien. Der rot-schwarze Faden lässt sich durch die Geschichte und die Welt verfolgen. Manchmal reißt er, und manchmal taucht er an unerwarteter Stelle wieder auf. Er wird von der Landbevölkerung der Ukraine in den 1920er Jahren bis zu den Gelbwesten gespannt, von autonomen Antifaschist*innen der 1980er Jahre bis zu heutigen Fabrikbesetzer*innen in Südamerika.

Wenn solch internationales und historisches Material zusammengetragen wird, ist es als Annäherung an die Gegenwart und die Zukunft zu verstehen. Das Zusammenfügen verschiedener Theorien und Bewegungen ist mehr als ein Freibrief für wildes Denken in alle Richtungen, solange sie auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt verweisen: den Ausweg aus dem Kapitalverhältnis. Dieser wird immer noch abzielen auf »das Einfache, das schwer zu machen ist«, den Kommunismus, wie Bertolt Brecht es formuliert hat.

 

Christopher Wimmer ist Herausgeber des Sammelbandes »Where have all the Rebels gone?« Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht (Unrast Verlag 2020). Der Beitrag beruht auf seinem Einleitungskapitel.

378 | UNO am Ende?
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Aus der Magazinsendung vom
Juni 2020:

Der Südnordfunk vom Juni erinnert an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und an das Schicksal von Kolonialsoldaten, denen nach der Niederschlagung des Naziregimes jede Anerkennung und teilweise auch ihre Entlohnung verweigert wurde. Die Wanderausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" haben wir 2010 in Freiburg gezeigt. Seither ist sie um die Welt gewandert, zum Beispiel nach Gambia und Südafrika. Vom 1. Juli bis Oktober 2020 wird sie in der norddeutschen Gedenkstätte Lager Sandbostel gezeigt.

Die Beiträge im Juni:

 

 

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