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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 378 | UNO am Ende? Frauenfeindliche humanitäre Organisationen?

Frauenfeindliche humanitäre Organisationen?

Freier anstatt Friedensstifter, UN-Blauhelmsoldaten als Vergewaltiger. Die Kritik an sexualisierten Übergriffen durch Truppenmitglieder internationaler Friedensmissionen verweist auf Strukturprobleme militarisierter Männlichkeit. Doch wie sieht es in der humanitären Arbeit im Auftrag der Vereinten Nationen aus? Ist das zivile Personal weniger gewaltbereit und sexistisch?

von Rita Schäfer

 

An Beispiel des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR lässt sich zeigen, wie die UN in der humanitären Arbeit präventiv gegen sexualisierte Gewalt vorgeht und darauf reagiert. Die in Genf ansässige Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist international die wichtigste Schaltstelle für den Schutz von Geflohenen. Im Folgenden wird die Institutionalisierung von entsprechenden Leitlinien und Gender-Ansätzen in der Arbeit des UNHCRs aufgezeigt. Der praktischen Umsetzung stehen jedoch Missbrauch durch UN-Mitarbeiter und sexuelle Belästigung von Mitarbeiterinnen durch Vorgesetzte und Führungskräfte des UNHCR diametral entgegen. Es geht nicht um Einzelfälle, sondern um männlich dominierte Machtstrukturen und übergriffiges Sexualverhalten in einer UN-Organisation mit über 16.000 Mitarbeiter*innen in 134 Ländern, die vor Ort oft mit NGOs und deren Personal kooperiert.

 

Institutionalisierung von Gender

Die Integration von Gender basierte auf Debatten während der UN-Frauendekade von 1976 bis 1985. Ab 1990 folgten entsprechende Leitlinien und Gender-Analysen. Zudem wurden praktische Anleitungen für die humanitäre Arbeit erstellt. Dazu ein Beispiel aus Guinea: Dort setzten frühere Kämpfer unter den Geflüchteten ihre Gewaltübergriffe auf Frauen und Mädchen fort. Die zumeist jungen Kriegsheimkehrer waren wegen ihres aggressiven Verhaltens von ihren Familien verstoßen worden und suchten in den bereits überfüllten, aber mangelhaft ausgestatteten Flüchtlingslagern Unterschlupf.

Das UNHCR war für den Umgang damit auf Initiativen der Geflüchteten selbst angewiesen. Als hilfreich galten kleinräumige Sicherheitskomitees, die Männer und Frauen gemeinsam bildeten. Sie begannen Diskussionen über die Hintergründe der Gewalt, aber auch über belastende Krankheiten und sozio-ökonomische Probleme. Alleinstehende Frauen wurden fortan in der Nähe von Familien untergebracht, was ihren Schutz erhöhte und Stigmatisierung reduzierte. Gewählte Frauen vertraten die Interessen der Gewaltüberlebenden gegenüber der Lagerleitung. Vergleichbare konkrete Beispiele dokumentierte das UNHCR in Tansania, Äthiopien und Liberia.

2003 erließ das UNHCR neue Richtlinien zum Gewaltschutz für Geflohene, intern Vertriebene und Rückkehrer*innen, sie umfassten auch Maßnahmen gegen häusliche und eheliche Gewalt in Lagern. Ein praxisorientiertes Handbuch zum Schutz von Frauen und Mädchen erschien 2008. Aktualisierungen der strategischen Ausrichtung erfolgten 2011 und 2013, darin hatte die verstärkte Institutionalisierung der Partizipation geflohener Frauen im Lagermanagement großen Stellenwert.

Dieses Ziel verfolgt auch das Inter-Agency Standing Committee (IASC), an dem 18 internationale Organisationen und humanitäre Hilfswerke mitwirken. Derzeit übernimmt das UNHCR dabei koordinierende Führungsaufgaben. Bereits 2005 formulierte das IASC Richtlinien zur Gewaltprävention und zur Reaktion auf Übergriffe. 2017 folgten Gender-Leitlinien und ein Jahr später ein Gender-Aktionsplan. Seit 2019 gibt es ein Gender-Handbuch. Darin wird Gender als Machtkategorie verstanden und ansatzweise intersektional konzeptionalisiert – also mit Differenzkategorien wie Alter und Behinderung in Beziehung gesetzt.

 

Gewaltursachen und Kritik

Macht ist auch ein Schlüsselbegriff in den Erklärungen internationaler humanitärer Organisationen zu geschlechtsspezifischer Gewalt im Fluchtkontext. Zu den Gewaltursachen zählen sie einerseits etablierte patriarchale Strukturen sowie militarisierte Maskulinitätsmuster und andererseits die oft schwierigen Bedingungen in den Flüchtlingslagern. Problematisch ist deren mangelhafte Ausstattung, im Bereich der sanitären Anlagen und Beleuchtung oder die Ausgabe von Nahrungsmittelhilfe nur an männliche Familienvorstände. Um so wichtiger ist es, Lebensmittel auch an Frauen auszugeben. Deren Partizipation ist gefragt, wenn weitere konkrete Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Sicherheit vor Ort ergriffen werden.

Diese Aspekte werden bereits in Planungen des UNHCR berücksichtigt, wobei die Verantwortlichen die mangelnde Zahlungsbereitschaft vieler Regierungen kritisieren, schließlich finanziert sich das UNHCR über diese Gelder. Gravierende Budgetdefizite verhindern ausreichende Nahrungsmittelhilfe in den Lagern. Sie gilt aber als notwendig, um Prostitution von Frauen und Mädchen zur täglichen Existenzsicherung vorzubeugen. Noch schwieriger ist die Auseinandersetzung mit patriarchalen Machtmustern. Gegenstrategien zur Überwindung militarisierter Männlichkeit fokussieren auf die Arbeit mit jungen Männern, die für handwerkliche Aufgaben im Lagermanagement angesprochen werden. Die damit verbundene Anerkennung durch Lagerbewohner*innen soll Neuorientierungen jenseits martialischer Prägungen ermöglichen.

Doch diese Maßnahme ist konzeptionell umstritten. Kritiker*innen zufolge wird suggeriert, das chaotische Lagerleben würde triebgesteuerte Gewalttätigkeit freisetzen, die gezügelt werden müsse. Oft würden Gender-Maßnahmen für Männer über deren Köpfe hinweg geplant. Ein weiterer Kritikpunkt lautet: Wenn humanitäre Gender-Programme nur auf den Einstellungswandel geflohener Männer abzielen, ignorieren sie, dass Kriegsparteien, einschließlich der Armeen, weltweit Vergewaltigungen als Strategie zu Gebietseroberungen einsetzen – ein Problem, das zu den Fluchtursachen zählt.

Zudem gibt es auch in den Reihen der Blauhelmsoldaten, des Sicherheitspersonals in Lagern und der humanitären Helfer Sexualstraftäter, wie Fälle aus der Zentralafrikanischen Republik oder der Demokratischen Republik Kongo belegen. Sie tragen durch sexualisierten Machtmissbrauch dazu bei, geflohene Frauen zu entwürdigen und Männer in deren sozialem Umfeld zu demütigen. Um so wichtiger ist die Ahndung der Übergriffe, die in der Praxis aber nur selten erfolgt.

 

Maßnahmen gegen Missbrauch und Belästigung

Diesen grundsätzlichen Problemen musste sich das UNHCR bereits 2002 stellen. Eine gemeinsam mit Save the Children in Auftrag gegebene Studie zu sexualisierter Gewalt in den westafrikanischen Nachkriegsländern Liberia, Guinea und Sierra Leone brachte den Missbrauch von Minderjährigen durch Blauhelmsoldaten, Entwicklungsexperten und Lagerpersonal unter Leitung des UNHCR zutage. Während der damalige UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Rudd Lubbers, die Übergriffe als Gerüchte bagatellisierte, ordnete UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Untersuchung an. Nur in einem Fall wurde der Täter belangt.

Es war klar, dass auch das UN-Hochkommissariat Maßnahmen gegen Missbrauch durch eigenes Personal ergreifen musste. Dies blieb unter Lubbers aber schwierig, zumal Mitarbeiterinnen ihm selbst sexuelle Belästigung vorwarfen und sich UN-intern beschwerten. Das dafür zuständige UN Office of Internal Oversight Services bewertete die Beschwerden als begründet und empfahl disziplinarische Maßnahmen gegen Lubbers. Lubbers, der zuvor christdemokratischer Premierminister der Niederlande gewesen war, wies die Vorwürfe von sich. Zwar trat er 2005 als UN-Hochkommissar für Flüchtlinge zurück, beteuerte aber weiterhin seine Unschuld und inszenierte sich als Opfer übler Nachrede. Kofi Annan maßregelte ihn nicht.

Auch die Klage einer Betroffenen blieb aus formalrechtlichen Gründen erfolglos, weil Lubbers diplomatische Immunität genossen hatte. Dennoch erhielt institutionalisierter Sexismus innerhalb der UN mehr Beachtung. Annans Nachfolger Ban Ki-moon richtete eine Verwaltungsstelle sowie zwei Gerichte für disziplinarische und arbeitsrechtliche Fälle ein. Sie sind für das Personal aller UN-Organisationen zuständig. 2017 folgte eine Strategie zur systematischen Verbesserung der Prävention und Reaktion auf sexuellen Missbrauch in der UN insgesamt.

Auch im UNHCR hat sich etwas getan. Inzwischen ist das Büro des Generalinspektors (IGO) für Beschwerden bei sexueller Belästigung zuständig, 2018 wurden dort 34 Übergriffe durch UNHCR-Mitarbeiter und 83 durch Personal von Partnerorganisationen gemeldet. In fünf Fällen fanden disziplinarische Ermittlungen statt, drei Mitarbeiter wurden anschließend entlassen. Ob die jeweilige Strafjustiz eingeschaltet wurde, ist unklar. Seit 2018 gibt es im UNHCR eine Koordinatorin zur Überwindung sexueller Ausbeutung und Belästigung. Sie kooperiert mit 300 weltweiten UNHCR Gender Focal Points. Eine 2019 publizierte Evaluierung lobt solche institutionellen Mechanismen, forderte aber mehr Prävention und disziplinarisches Vorgehen gegen Täter, vor allem durch die Stärkung der entsprechenden Kapazitäten von NGOs, die vielerorts im Lagermanagement mitwirken. Das sind Voraussetzungen für Verbesserungen, zumal das UNHCR Menschen in Flüchtlingslagern durch intensivere Zusammenarbeit untereinander und mit Lagerleitungen zur Meldung von Missbrauch ermutigen will.

 

Rita Schäfer forscht als freiberufliche Wissenschaftlerin unter anderem über Gender, Flucht und Migration in Südafrika.

378 | UNO am Ende?
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Aus der Magazinsendung vom
Juni 2020:

Der Südnordfunk vom Juni erinnert an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und an das Schicksal von Kolonialsoldaten, denen nach der Niederschlagung des Naziregimes jede Anerkennung und teilweise auch ihre Entlohnung verweigert wurde. Die Wanderausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" haben wir 2010 in Freiburg gezeigt. Seither ist sie um die Welt gewandert, zum Beispiel nach Gambia und Südafrika. Vom 1. Juli bis Oktober 2020 wird sie in der norddeutschen Gedenkstätte Lager Sandbostel gezeigt.

Die Beiträge im Juni:

 

 

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