„Die Ersthelfer der Welt“
von Peter Korig
Es ist ein Bild, das aus den TV-Nachrichten vertraut ist. Irgendwo in einem fernen Land hat es eine Katastrophe gegeben, ein Erdbeben, einen Wirbelsturm, den Ausbruch einer Seuche. Rettungsteams und Ärzt*innen machen sich auf den Weg, Hilfsmaterialien werden verladen und verteilt, es wird zu Spenden aufgerufen. Derzeit gibt es wieder solche Bilder zu sehen, nur liegen die Empfängerländer dieser Form von internationaler Unterstützung diesmal nicht in Afrika, Asien, Lateinamerika oder Osteuropa und die Geberländer nicht in Westeuropa oder Nordamerika.
Mit Ausbruch der Covid-19-Pandemie auch in Europa ist seit März zu beobachten, dass sich die gewohnte Flussrichtung internationaler Hilfe geändert hat. Die Staaten, die EU-Mitgliedsstaaten bei der Bekämpfung des Virus zur Hilfe kommen, galten bis vor kurzem als „Schwellenländer“ (wie etwa China), oder es sind Länder, die in der westeuropäischen Medienöffentlichkeit meist mit Krisen und zumindest politischer Rückständigkeit assoziiert werden (wie Albanien). Besonders eindrücklich ist das am Beispiel Italiens zu beobachten. Das EU-Land, in dem der Pandemieausbruch das Gesundheitssystem schon früh überforderte und das eine hohe Zahl an Todesopfern zu beklagen hat, erhielt ab Mitte März in großem Umfang Hilfe aus China, Russland und Kuba.
Am 12. März landete in Rom ein chinesisches Flugzeug, an Bord Ärzt*innen, die Erfahrungen bei der Bekämpfung des Corona-Ausbruchs in Wuhan gesammelt hatten, sowie eine Ladung dringend benötigter Hilfsgüter. Weitere Lieferungen und Ärzt*innen folgten. Dazu kamen Spenden chinesischer Firmen und Bürger*innen. In der Hafenstadt Wenzhou, aus deren Region sich der größte Teil der chinesischen Immigration nach Italien rekrutiert, wurden Spenden für das Gesundheitswesen im norditalienischen Piemont gesammelt.
Kuba, Russland, China, Albanien
Kurz zuvor war Italien damit gescheitert, über den Civil Protection Mechanism der EU Unterstützung zu erhalten. In dieser Situation wurde die Hilfe aus China mit großer Dankbarkeit aufgenommen. Zwar erfolgte ein gewichtiger Teil dieser Hilfen nicht kostenlos (wie in der klassischen Entwicklungszusammenarbeit allgemein üblich) und Italien muss das gelieferte medizinische Material bezahlen. Aber selbst das konnte angesichts von in der EU erlassenen Exportverboten den Eindruck nicht trüben, dass allein China dem schwer getroffenen Land zur Hilfe komme. Die chinesischen Expert*innen spielen mittlerweile in der italienischen Diskussion über Methoden der Pandemiebekämpfung eine wichtige Rolle.
Am 22. März folgten 52 Ärzt*innen und Pfleger*innen aus Kuba, begrüßt von einer Welle der Dankbarkeit und des Respektes. Selbst in bürgerlichen Medien wurde die Rolle kubanischer Mediziner*innen als „i First Responder del mondo“ (die Ersthelfer der Welt) und insbesondere ihr Einsatz gegen die Ebola-Epidemie in Westafrika gewürdigt. Ebenfalls ab dem 22. März wurden auf Seuchenbekämpfung spezialisierte medizinische Einheiten des russischen Militärs nach Italien verlegt. Außenminister Luigi Di Maio begrüßte die Landung der ersten Flugzeuge persönlich. Bilder vom Transport des medizinischen Gerätes und der Mediziner*innen von einem Militärflughafen bei Rom ins Katastrophengebiet von Bergamo mit einem russischen Militärkonvoi sorgten für großes Aufsehen in den Medien. Die Hilfe aus Russland wurde in italienischen Medien am ehesten kritisiert und zum Teil als medizinisch unnützes trojanisches Pferd russischer Großmachtpolitik dargestellt.
Davon unbeeindruckt wandten sich italienische Politiker*innen mit Bitten um weitere Unterstützung nicht nur an die USA, China und Israel, sondern auch weiterhin an Russland. Die russischen Verantwortlichen unterstrichen deutlich die Symbolik der Aktion. Hilfslieferungen und Militärlaster waren mit Aufklebern verziert, die zwei Herzen in den Farben der russischen und italienischen Fahnen zeigten und auf Russisch, Englisch und Italienisch die Aufschrift „Aus Russland mit Liebe“. Ende März entsandte dann selbst Albanien, dessen eigenes Gesundheitssystem unter der Abwanderung qualifizierten Personals nach Deutschland leidet, eine Delegation von 30 Ärzt*innen, um die medizinische Versorgung in der Lombardei zu unterstützen.
Italien liegt an der Seidenstraße
Dass gerade Italien zum Empfänger dieser Hilfslieferungen wurde, ist weder Zufall noch darauf zurückzuführen, dass Italien als erstes EU-Land so massiv von der Pandemie getroffen wurde. So ist Italien einer der wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Kooperationspartner Kubas in der EU. Insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft, Tourismus, Biotechnologie und erneuerbare Energien bestehen enge Verbindungen. Gepflegt werden diese auch im Medizinsektor, für Kuba sowohl zentrales Mittel internationaler Diplomatie als auch Exportgut. Regelmäßig halten kubanische und italienische Ärzt*innen gemeinsame Kongresse ab, und schon vor der Corona-Krise gab es Austausch zwischen kubanischen und italienischen Mediziner*innen. In Spezialkliniken des jeweils anderen Landes wurden wechselseitig Patient*innen behandelt.
Albanien ist als ‚verlängerte Werkbank‘ der italienischen Textil- und Dienstleistungsindustrie eng mit der italienischen Wirtschaft verbunden. Die ökonomische Lage in diesem ärmsten europäischen Land ist desaströs. Die albanische Politik ist durch den Konflikt zwischen den zwei größten Parteien paralysiert, die jeweils versuchen, die im Land präsenten internationalen Mächte, allen voran EU und USA, auf ihre Seite zu ziehen. Mangels legaler gewinnträchtiger Exportgüter bemüht sich die Regierung unter Premierminister Edi Rama, politische und ökonomische Unterstützung auf internationaler Ebene durch die Übernahme unangenehmer Aufgaben zu generieren. Das geschieht etwa durch Unterbringung entlassener Guantanamo-Gefangener oder durch Asyl für iranische Volksmujahedin, die aus ihrer Basis im Irak umgesiedelt wurden.
Russland wiederum unterhält mit Italien eine „privilegierte Partnerschaft“, das Land ist nach Deutschland der zweitwichtigste Handelspartner Russlands in der EU und Großabnehmer russischen Erdgases. Die in Folge des Krieges in der Ukraine gegen Russland verhängten Sanktionen stoßen in der italienischen Politik auf wenig Gegenliebe, da sie der italienischen Wirtschaft schaden. Zudem ist die Politik der russischen Regierung seit einigen Jahren von dem Bemühen gekennzeichnet, die Erinnerung an die 1990er Jahre, als Russland in Teilen der internationalen Wahrnehmung zum Entwicklungsland herabgesunken war, verblassen zu lassen.
Auch die Beziehungen Chinas zu Italien sind enger als zu vielen anderen europäischen Ländern. Seit den 1980er Jahren entstand ein dichtes Netz ökonomischer Verbindungen. Italien ist ein Hauptzielland chinesischer Immigration nach Europa, mehr als 300.000 chinesische Bürger*innen leben mittlerweile in Italien. Im März 2019 trat Italien als erstes G7- und EU-Land der chinesischen Belt and Road Initiative bei, der so genannten „Neuen Seidenstraße“. Der Hafen von Triest ist als europäischer Zielhafen der „maritimen Seidenstraße“ vorgesehen, die China, Südostasien, Indien, Ostafrika, die arabische Halbinsel, die Türkei und schließlich den europäisch-mediterranen Raum verbinden und den Warenaustausch auf diesen Routen intensivieren soll.
Die Peripherie ist keine mehr
Die derzeit Italien zur Hilfe kommenden Länder haben somit jeweils ihre spezifischen Interessen, die bilateralen politischen Beziehungen zu pflegen und auszubauen. Internationale Nothilfe ist dabei klassischerweise ein symbolisch hoch aufgeladenes Mittel, an derartige Beziehungen anzuknüpfen oder sie zu festigen. In derartigen Unterstützungsaktionen bilden sich aber immer auch internationale Machtverhältnisse ab. In diesem Sinne lässt sich die aktuelle Hilfe für Italien als Moment einer seit längerem andauernden, tatsächlichen Machtverschiebung zwischen EU-Europa und der "Peripherie" betrachten. Diese ist einerseits vom Aufstieg Chinas zur international interventionsfähigen und -willigen Großmacht geprägt und andererseits von der internen politischen und ökonomischen Zerrüttung der EU. Von Deutschland niederkonkurrierte und seit der Finanzkrise 2008 kaputtgesparte Volkswirtschaften sehen sich zunehmend gezwungen, sich an Partner außerhalb der EU anzulehnen.
Es ist auch kein Zufall, dass die Italien helfenden Staaten durch einen starken staatlichen Zugriff auf ökonomische Ressourcen und Entscheidungsprozesse geprägt sind, was auf ihrer Geschichte als realsozialistische Modernisierungsregime beruht. Dass ein Land wie Italien auf diese Hilfe dringend angewiesen ist, weist zudem darauf hin, dass auf Privatisierung und Austerität beruhende Politiken längst auch im Globalen Norden Infrastruktur wie das Gesundheitswesen dysfunktional werden ließ – und zwar in einem Maße, dass davon die Fähigkeit von Staaten negativ beeinflusst wird, sich im internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten.
Peter Korig arbeitet zu politischen und ökonomischen Entwicklungen im postsozialistischen Raum. Der Text entstand während der Ausgangssperre in Italien.