Yavuz Ekinci: Die Tränen des Propheten
Dem Topos der Prophetie nähert sich der kurdisch-türkische Schriftsteller Yavuz Ekinci in seinem Roman Die Tränen des Propheten in besonderer Weise.
»Leistet Umkehr!«
Prophetie und Weltrettungsmissionen sind wieder en vogue. Im Kino läuft »2040 – Wir retten die Welt!«. Die Ökoaktivist*innen von Extinction Rebellion schreiben auf ihrer Homepage »Tell the truth« und »Komm, wir retten jetzt die Welt«. Dem Topos der Prophetie nähert sich der kurdisch-türkische Schriftsteller Yavuz Ekinci in seinem Roman Die Tränen des Propheten in besonderer Weise. Einerseits entwickelt Ekinci ein einfühlsames Portrait des vermutlich in Istanbul (genannt: die Große Stadt) lebenden Informatikers Mehdi, der sich vom normalen Bildungsbürger in einen Propheten verwandelt. Andererseits bedient sich Ekinci für seine Großstadtstory gekonnt aus dem Fundus prophetischer Topoi und aus Texten der drei abrahamitischen Religionen.
Dieser interreligiöse Horizont konterkariert nicht nur die Borniertheit des aktuellen politischen Lebens in der Türkei, welche über die Sozialen Medien auf Mehdis Smartphone ins Romangeschehen flutet. Zugleich entfalten die alten prophetischen Texte ihre ganze suggestive Kraft auf die Jetztzeit. Deren Dämonengeister spuken über 200 Seiten um einen modernen Menschen und in der Großen Stadt herum.
Mehdi ist ein gebräuchlicher arabischer Vorname und bedeutet »der Rechtsgeleitete«, womit die Nachkommenschaft des Propheten Mohammed gemeint ist. Der Romanprotagonist Mehdi ist einerseits gelehrt, fromm, Informatiker, Familienvater. Andererseits ist er etwas zu arglos und realitätsfern für diese Welt. Zu Beginn des Romans ist Mehdi alleine zuhause, in seiner Stadtwohnung mit Balkon, Bücherregalen und Haustieren. Das Alleinsein rührt, so erfährt man, vom Rückzug aus dem Beruf und aus der Familie her. Seine Frau ruft ihn aus dem Urlaub an und hält ihm vor, wie schön es wäre, wenn er mitgekommen wäre. Dann geschieht etwas Unerhörtes: Mit Donner, Blitz und Scheibenklirren erscheint ihm Erzengel Gabriel. Er reißt Mehdi an den Schultern und schüttelt ihn: »Oh Mehdi! Du bist der Gesandte Gottes!«
Propheten sind oft Propheten wider Willen. Mit Sicherheit ist dies Mehdi. Er versucht, die Mission von sich abzuschütteln, doch er kann nicht. Man wird Zeuge davon, wie es ist, der göttlichen Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen zu müssen: »In unserem Zeitalter Prophet zu sein ist schwer«. Mehdi nimmt die Umwelt nur noch im Tunnelblick seiner Mission wahr und reagiert kaum mehr adäquat auf Begegnungen mit Nachbar*innen, Freund*innen oder der Familie. Frau und Tochter verlassen ihn.
Die Schauplätze des Romans wechseln. Einmal zieht sich Mehdi auf den Grund eines tiefen Brunnens zurück. Dann setzt er sich dem brodelnden Leben in der Großen Stadt aus, wo die Nachbarn spotten: »Na, Prophet? Alles klar bei dir?«. Mehdi läuft »zwischen den Menschen umher, vorbei an Taxis, Müllwagen, Bars mit scheppernder Musik, an Junkies mit glasigen Augen, im Müll stöbernden Katzen, klebstoffschnüffelnden Straßenkindern und auf Freier wartenden Frauen«. Die Bewohner*innen der Großen Stadt reagieren auf den Propheten, wie man in dieser Welt auf Outsider reagiert: mit Grausamkeit.
So dreht sich die Geschichte. Mehdi spiegelt mit seiner Außenseiterexistenz die noch krassere Verrücktheit der ihn umgebenden Welt. Seine Bekannten verspotten ihn, andere bespucken und verprügeln ihn. Der Irre erscheint nun wieder als außenstehender Beobachter, der Dinge erkennt, die die normalen Leute nicht sehen. Es entspinnt sich eine Odyssee durch die Große Stadt, die an einigen Stellen an große Stadtromane wie »Ulysses« oder »Berlin Alexanderplatz« erinnert. Dazwischen ruft Mehdi Sätze wie »Leistet Umkehr!«.
Es lohnt sich, mit Yavuz Ekinci auf diese Entdeckungsreise zu gehen. Bisher sind erst zwei seiner fünf Romane auf Deutsch erschienen, obwohl sie zu Recht mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurden.
von Winfried Rust
Yavuz Ekinci: Die Tränen des Propheten. Aus dem Türkischen von Oliver Kontny. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 208 Seiten, 18 Euro.