Gerhard Stapelfeldt: Über Antisemitismus
Der Urgrund des Antisemitismus
Das jüngste Buch des Soziologen Gerhard Stapelfeldt ist nur 187 Seiten kurz. Zu besprechen ist es dennoch nicht einfach. Denn Stapelfeldt argumentiert methodisch voraussetzungsvoll im Sinne kritischer, reflexiver Aufklärung. In der Tradition der Marxschen Kritik geht Stapelfeldt davon aus, dass die Denkformen und Erklärungen, die unserer Wirklichkeit Rationalität zusprechen, Resultate dieser gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Sie sind weniger subjektive Eigenleistungen als Reproduktionen des »gesellschaftlichen Unbewußten«. Daher könne einzig kritische Reflexion helfen, dieses unbewusste gesellschaftliche Verhältnis aufzuklären, immer im Hinblick auf eine Praxis, die die Widersprüche der Gesellschaft aufhebt. Weil es Stapelfeldt, wie auch Marx selbst, nicht um philosophische Denkarbeit, sondern kritische Arbeit an der materiellen Wirklichkeit geht, heißt diese Methodik dialektischer Materialismus.
Klingt sehr elaboriert, vor allem, wenn es um ein Phänomen wie Antisemitismus geht. In der Methodik liegt aber die Stärke von Stapelfeldts Buch, dessen radikaler Ansatz gerade angesichts der Wirkungslosigkeit des akademischen Diskurses sowie polizeilicher und sozialarbeiterischer Interventionen gegen Antisemitismus Geltung beanspruchen kann. Die Qualität seiner Untersuchung liegt darin, ein Urteil über unsere Gesellschaft treffen zu können, das methodische Wahrheit und normative Geltung aufweist. Wieso normative Geltung? Weil die Erkenntnis über die Gesellschaft nur vom utopischen Standpunkt der Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen gelingen kann. Eine Apologie der gesellschaftlichen Verhältnisse ist zu keinem Zeitpunkt angebracht.
Wie kommen nun der methodische Ansatz und sein Gegenstand zusammen? Stapelfeldt zeichnet die Entwicklung des modernen Antisemitismus in seinem jeweiligen historisch-sozialen Kontext anhand der jeweiligen Denkformen nach. Wesentliche Erkenntnis ist, dass Antisemitismus im Kapitalismus nichts mit Juden zu tun hat – und doch finden Antisemit*innen in dem, was sie als Jüdinnen und Juden sehen, ihr Objekt, dem sie Allmacht zuschreiben. Die Wahl des Objekts ist nicht willkürlich, sondern resultiert aus einer Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung der jüdischen Minderheit in Europa. Antisemitismus ist das Kernelement der Gegenaufklärung, er manifestiert die Ablehnung der Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit, Solidarität und eine vernünftige, durchschau- und gestaltbare Weltgesellschaft. Im Nationalsozialismus fand der moderne Antisemitismus seinen Höhepunkt, sowohl in der seiner umfassenden ideologischen Qualität (»jüdische Weltverschwörung«) als auch in seiner Mordpraxis. Nach 1945 fiel Antisemitismus der Verdrängung anheim, und nur wenn er explizit auftrat, war er skandalwürdig.
Wie begründet Stapelfeldt aber, dass unsere heutige Gesellschaft antisemitisch ist? Er begründet es aus den Dogmen des neoliberalen Selbstverständnisses, welches dem heutigen Kapitalismus Legimitation verschafft. Drei grundsätzliche Dogmen macht Stapelfeldt aus: 1. das Dogma eines irrationalen, unbewussten Allgemeinen, das aber die neoliberalen Ideologen erkannt hätten; darin begründet sich ein politisch-ökonomischer Autoritarismus. 2. das Dogma des Gegensatzes von »spontaner« und »gemachter Ordnung«; daraus leitet sich die Omnipräsenz des neoliberalen Staats ab. 3. das Dogma der Freund-Feind-Bestimmung, die zu einer Gesellschaft ohne Gesellschaft führt, zu einer Gemeinschaft, die sich gegen die ‘Gemeinschaftsfremden’ bestimmt. In dieser Freund-Feind-Bestimmung sieht Stapelfeldt den Urgrund des Antisemitismus.
Unterfüttert sind diese Dogmen mit einer ausgehöhlten Erinnerungskultur, die einem erinnerungslosen Neoliberalismus entspricht. Die anti-antisemitischen Bekenntnisse der Gegenwart klären nicht über die Gegenwart auf, sie fügen sich in eine Bewusst- und Erinnerungslosigkeit ein. In der als »Rechtspopulismus« titulierten konformistischen Revolte, die ohne Ausweg gegen ihren eigenen Grund – den Neoliberalismus – rebelliert, erlebt die antiaufklärerische Volks-Gemeinschaft eine Renaissance. Die Folgen sind der Ausschluss der ‚Gemeinschaftsfremden‘ durch Rassismus und Antisemitismus.
Dagegen helfen könnte einzig eine emanzipatorische Aufklärung über die historischen und gesellschaftlichen Grundlagen unserer Gegenwart, die auf eine Aufhebung der Widersprüche abzielt und darauf, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx). Wer diesen Bogen nachvollziehen will, der oder dem sei Stapelfeldts Buch ans Herz gelegt, ebenso denjenigen, die die Aporien der akademischen Antisemitismusforschung überwinden wollen.
von Hanno Plass
Gerhard Stapelfeldt: Über Antisemitismus. Zur Dialektik der Gegenaufklärung. Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2018. 192 Seiten, 85,80 Euro.