Ngô Văn: Im Land der gesprungenen Glocke
Die mörderische Vorgeschichte des Vietcong
»Ho, Ho, Ho Chi Minh« hallte es 1968 durch die Straßen der Metropolen, und in der BRD riefen die antiautoritären Studierenden bei ihren Demonstrationen den Bürger*innen in ihren Häusern zu: »Runter vom Balkon, unterstützt den Vietcong!« Doch war dieser Vietcong wirklich so unterstützenswert? Oder setzte sich hier nur wieder einmal die schlechte Konsequenz eines manichäischen Gut- und Böse-Antiimperialismus durch – der Feind meines Feindes ist mein Freund?
In seiner 1996 in Frankreich und erst 2018 auch auf Deutsch erschienenen Autobiographie Im Land der gesprungenen Glocke berichtet Ngô Văn von der Vorgeschichte des Vietnamkriegs. Geführt wurde er zwischen den USA und Südvietnam auf der einen Seite und der Demokratischen Republik Vietnam (Nordvietnam) und der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (Vietcong) auf der anderen.
Ngô Văn wurde 1913 als Sohn eines Bauern in der Nähe von Saigon in der damaligen französischen Kolonie Kotschinchina geboren. Mit 14 Jahren begann er zu arbeiten und ab den 1930er Jahren engagierte er sich im antikolonialen Widerstand. Sein Lebensbericht setzt ein mit seiner Verhaftung 1936 und der Beschreibung der brutalen Folter durch die französischen Kolonialisten und deren einheimische Unterstützer. Die französische Kolonialherrschaft unterdrückte erbarmungslos jegliche Form eigenständigen politischen Handelns, ob marxistischer, nationalistischer oder mystischer Ausrichtung.
1930 hatte sich die Kommunistische Partei Indochinas vornehmlich aus in Moskau ausgebildeten stalinistischen Kadern gebildet. Schon früh entstanden innerhalb der KPI oppositionelle Strömungen, die sich an den Positionen Leo Trotzkis orientierten. Sie kritisierten die Ausrichtung der KPI an der nationalen Unabhängigkeit – der Sozialismus sollte erst später folgen – und propagierten eine Gleichzeitigkeit von sozialer Revolution und staatlicher Selbständigkeit. Als diese trotzkistische Fraktion dennoch ein Bündnis mit den Stalinisten einging und im Rahmen des Laval-Stalin-Paktes vollständig vom Klassenkampf und dem Kampf gegen den französischen Imperialismus schwieg, gründete eine Gruppe um Ngô Văn die Liga der internationalistischen Kommunisten zum Aufbau der IV. Internationale. Diese war immer noch am Trotzkismus orientiert, kritisierte aber die an den Interessen Moskaus ausgerichtete Politik der KPI und ihrer trotzkistischen Verbündeten.
In den Wirren gegen Ende des Zweiten Weltkrieges – inzwischen hatte Japan Indochina besetzt und wurde wiederum von Großbritannien besiegt und verdrängt – nutzten die Stalinisten, die sich inzwischen Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viet Minh) nannten, das politische Vakuum und ergriffen die Macht. Im Kampf gegen die zurückkehrenden französischen Kolonialisten entledigten sie sich ihrer früheren trotzkistischen Verbündeten und machten Jagd auf alle linken Oppositionellen. Der Führer der Stalinisten, Ho Chi Minh, hatte die Parole ausgegeben: »Sie müssen politisch ausgerottet werden«.
Für die Viet Minh waren die Trotzkisten die »Zwillingsbrüder des Faschismus«. Auch die rätedemokratische Erhebung der Minenarbeiter von Hong gay-Cam pha und die spontanen Landenteignungen der Bauern wurden von den Viet Minh niedergeschlagen. Der Stalinismus erwies sich wieder einmal als brutales Bollwerk gegen die soziale Revolution. Und trotzdem idealisierten die linken Bewegungen des Westens kaum eine nationale Befreiungsbewegung so sehr wie den stalinistisch imprägnierten Vietcong. Der richtige und notwendige Protest gegen den mörderischen Krieg des US-Militärs gegen die Bevölkerung Vietnams, Laos und Kambodschas führte die westliche Linke fast vollständig an die Seite derjenigen Kräfte, die in Indochina die soziale Revolution unterdrückt hatten.
Ngô Văns Buch endet mit einer langen Aufzählung der Schicksale seiner Kampfgefährt*innen, von denen die meisten dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen. Er selbst flüchtete ins Exil nach Paris, wo er als Elektriker arbeitete und in seiner Freizeit Forschungen über seine Heimat betrieb. In Frankreich kam er in Kontakt mit den rätekommunistischen Kreisen um die Gruppe Socialisme ou Barbarie. 2005 starb er 91-jährig in seinem Exil.
Ngô Văns Lebensbericht kommt der Verdienst zu, den Mythos des Vietcong demontiert zu haben. Das Buch liest sich jedoch durch die Vielzahl der erwähnten Personen etwas schwierig. Um einen Überblick zu gewinnen, empfiehlt es sich, zuerst die Chronologie der Kolonialgeschichte Vietnams zu lesen, die die beiden Herausgeber an Ngô Văns Text angefügt haben. Gleiches gilt für ihr erhellendes Nachwort und die hilfreichen Anmerkungen. Trotz dieser Einschränkungen bleibt »Im Land der gesprungenen Glocke« ein wichtiges Buch, das die Erkenntnis fördert, dass nicht jeder Feind meines Feindes auch ein Freund sein muss.
Jens Benicke
Ngô Văn: Im Land der gesprungenen Glocke. Die Leiden Indochinas in der Kolonialzeit. Aus dem Französischen von Daniel Fastner, hg. von Christoph Plutte und Tilman Vogt. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 256 Seiten, 26 Euro.