Matthias Schmelzer/Andrea Vetter: Degrowth/Postwachstum zur Einführung
Zeitwohlstand statt BIP
Ein gutes Leben – wie ermöglichen wir es für alle? Wenn Diskussionen sich um Umweltzerstörung, Geschlechterungerechtigkeit oder globale Machtstrukturen drehen, kommen Debattierende schnell auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Wirtschaft. Und es wird nicht lange dauern, bis eine Person den Begriff »Degrowth« oder »Postwachstum« als Lösungsvorschlag in den Raum wirft. Klingt gut, aber bei der konkreten Umsetzung verlieren sich Gespräche dann oft in schwammigen Äußerungen.
Ein wenig Klarheit in die Postwachstums-Debatte bringen möchte das Buch Degrowth/Postwachstum zur Einführung von Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Seit der ersten Degrowth-Konferenz 2008 hat sich eine Szene entwickelt, die bezweifelt, ob weiteres Wirtschaftswachstum in reichen Ländern erstrebenswert ist. Schmelzer und Vetter versuchen, internationale Strömungen zusammenzufassen und ein fluides Gespräch voller verschiedenster Vorstellungen zu Papier zu bringen.
Postwachstum drückt vieles aus. Zum einen ist es eine offene Kritik an der Hegemonie des Wirtschaftswachstums, mit der eine generelle Wirtschafts- und Gesellschaftskritik einhergeht. Die Verfechter*innen von Degrowth betrachten Wirtschaft häufig eher als ideologische Konstruktion denn als Wissenschaft. Zum anderen ist es aber auch ein Konzept für einen wünschenswerten gesellschaftlichen Transformationsprozess, basierend auf sieben Ebenen der Kritik: Ökologie, Sozialökonomie, Kultur, Kapitalismuskritik, Feminismus, Industrialismuskritik und Süd-Nord-Beziehungen.
Bei ihren Erklärungen des Konzepts verlieren sich Schmelzer und Vetter in vielen Wiederholungen. Spannend wird es am Ende des Buches, wenn sie konkrete Vorschläge listen, wie Postwachstum in die Realität umgesetzt werden könnte. Vertreter*innen der Bewegung haben zum Beispiel vorgeschlagen, bezahlte Arbeitszeiten zu reduzieren oder ein Grund- und ein Maximaleinkommen einzuführen. Über Einnahmen aus Ökosteuern könnten soziale Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden. Vetter und Schmelzer erzählen von lokalen Wirtschaftsinitiativen, sich an der Gemeinwohlökonomie orientieren, und schlagen vor, das Bruttoinlandsprodukt als Indikator für Wohlstand abzuschaffen.
Schmelzer und Vetter erwähnen immer wieder, dass Postwachstum ein Prozess ist, der noch lange nicht ausgereift oder zu Ende gedacht ist. Sie nennen wichtige Kritikpunkte daran, zum Beispiel das ambivalente und ungeklärte Verhältnis zum Staat und die offene Frage, wie sich eine deutsche Postwachstumsgesellschaft auf europäische Wirtschaftskonstellationen auswirken könnte.
Bis zum avisierten »Zeitwohlstand« und einem Miteinander für alle ist es noch ein langer Weg. Aber wie Schmelzer und Vetter betonen, stellt die Postwachstumsdebatte zumindest die richtigen Fragen.
Elena Kolb
Matthias Schmelzer/ Andrea Vetter: Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2019. 256 Seiten, 15,90 Euro.