Barbara Umrath: Geschlecht, Familie, Sexualität
Barbara Umrath geht in ihrer Dissertation einer bedeutenden Leerstelle der frühen Kritischen Theorie nach: der nur fragmentarischen Auseinandersetzung mit der Geschlechterthematik.
Kritische Theorie des Geschlechts
So wichtig die frühe Kritische Theorie, verbunden mit Werken wie »Dialektik der Aufklärung« oder »Der eindimensionale Mensch« und Namen wie Pollock, Löwenthal, Horkheimer, Adorno, Fromm oder Marcuse, bis in die Gegenwart hinein ist, so deutlich wird immer wieder betont, dass sie bedeutende Leerstellen aufweist. Eine davon macht Barbara Umrath zum Ausgangspunkt ihrer Dissertation Geschlecht, Familie, Sexualität. Ihrem im Untertitel verdeutlichten Anliegen, »die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung« nachzuzeichnen, widmet sie sich anhand von Darstellungen in der Sekundärliteratur, »derzufolge sich die Kritische Theorie mit der Geschlechterthematik allenfalls am Rande auseinandergesetzt hat«, oder vermittels feministischer Rezeptionen, in denen »die analytischen ‚Werkzeuge‘ als unzureichend« kritisiert werden.
Umrath sieht diese Kritik hauptsächlich im fragmentarischen Charakter der Auseinandersetzung der Kritischen Theorie mit Geschlecht begründet: Im Gegensatz zu anderen Fragen habe es im Umfeld des Instituts für Sozialwissenschaft kaum grundlegende begrifflich-konzeptuelle Debatten zu Geschlecht gegeben. Die dennoch vorhandenen Fragmente rekonstruiert Umrath entlang der Auseinandersetzungen der Kritischen Theorie mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sowie mit Autorität und Sexualität als »Schlüssel« zum Verständnis gesellschaftlicher Totalität.
Die Autorin begnügt sich nicht mit oberflächlichen Lesarten. Sie benennt vom Standpunkt gegenwärtiger feministischer Auseinandersetzungen die Lücken und Probleme der untersuchten Arbeiten deutlich und zieht sich nicht auf eine wohlwollende Interpretation zurück. Ihre Analyse führt sie dennoch immer wieder zum Schluss, dass die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen von Beginn an in das gesellschaftstheoretische Projekt der Kritischen Theorie eingebettet war und in gewisser Weise ein intersektionales Forschungsprogramm avant la lettre darstellt.
Umrath kann zeigen, dass die Kritische Theorie nicht ohne die Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis verstanden werden kann – und dass umgekehrt die aktuelle Geschlechterforschung von ihren Arbeiten lernen kann. Dass es Umrath gelingt, Verbindungen herzustellen und gleichzeitig die Notwendigkeit einer kritisch-theoretischen Geschlechterforschung deutlich zu machen, ist ein Kontrast zu Tendenzen, die Arbeiten der Kritischen Theorie nur noch als historische Beispiele oder umgekehrt überhistorisch als der Weisheit letzter Schluss aus dem Schrank zu nehmen.
Auch wenn das Buch den Charakter einer akademischen Arbeit hat und sich vorrangig an sozialwissenschaftlich geschulte LeserInnen wendet: Dank aufwendiger Recherchen und umfangreicher Analysen ist Umraths Darstellung gelungen. Sie bildet ein Fundament für die Aktualisierung der Kritischen Theorie in wissenschaftlichen wie politischen Auseinandersetzungen.
Christoph Panzer
Barbara Umrath: Geschlecht, Familie, Sexualität. Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung. Campus, Frankfurt/New York 2019. 409 Seiten, 34,95 Euro.