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Saša Stanišić: Herkunft

Luchterhand Literatur Verlag, München 2019. 368 Seiten, 22 Euro

In Rezensionen war immer wieder zu lesen, Saša Stanišićs Herkunft sei ein Buch über ein »Land, das es nicht mehr gibt«, über Jugoslawien. Das stimmt nicht. Herkunft ist ein Buch über Erinnerungen und Erfindungen, Sprache, Ankommen und Zurechtkommen. Aber vor allem ist es ein Buch über das Erzählen. Wie schreibt man? Worüber? Und warum eigentlich? Ist die Fiktion nicht die bessere Realität? Das sind Fragen, die in diesem wunderbaren Roman manchmal direkt aufgeworfen werden, aber auch dann, wenn sie nicht gestellt werden, die Handlung als Hintergrundrauschen begleiten.

Kriegsverbrecher auf Spitzendeckchen

Ja, Stanišić wurde in Jugoslawien geboren, kam als Jugendlicher auf der Flucht vor dem Bosnienkrieg nach Heidelberg und hat heute einen deutschen Pass. Und natürlich erzählt er auch davon in »Herkunft«, diesem absurden autobiografisch-fiktionalen Roman. Reduziert man aber das Buch auf die Fluchtgeschichte oder das »Herkunftsland« Jugoslawien, tappt man in die Falle der Zuschreibungen und Überhöhungen, gegen die Stanišić anschreibt. Das Buch beginnt nicht zufällig mit den Schwierigkeiten, vor denen der Autor steht, als er zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft der Ausländerbehörde einen handgeschriebenen Lebenslauf vorlegen soll. »Herkunft« ist ein Buch über die Zumutung der Frage nach selbiger.

Und es ist ein Buch über Stanišićs Großmutter Kristina. Ihre Demenz liefert die Rahmenhandlung: Während sie ihre Erinnerungen verliert, macht der Enkel sich auf, Erinnerungen zu sammeln. Durch die Auseinandersetzung mit ihr begibt er sich auf die Suche nach Familiengeschichten, wird manchmal fündig und manchmal nicht. Seine Suche beginnt in Oskoruša, einem kleinen Dorf in Bosnien, in dem der Großvater aufgewachsen ist. Von dort braucht die Erzählung ein bisschen, bis sie Fahrt aufnimmt, aber dann lässt sie die LeserInnen nicht mehr los. Stanišić schreibt nicht linear, sondern sammelt Geschichten – und diese Geschichten machen süchtig. Er warnt zu Beginn: »Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten. Nur noch eine! Nur noch eine! Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine.«

Diese Abschweifungen machen den Reiz des Buches aus, genauso wie Stanišićs liebevoll beiläufiger Stil. Das Buch ist voller Sätze, die so schön sind, dass man sie sich sofort irgendwo notieren möchte. Zum Beispiel: »Dann kam der Sozialismus und diskutierte die Rolle der Frau, und die Frau ging aus der Diskussion nach Hause und hängt die Wäsche auf.« Selbst wichtige Details und teilweise brutale Feststellungen werden oft ganz beiläufig erwähnt – beispielsweise, wenn Stanišić das Wohnzimmer von Bekannten seiner Großmutter in Oskoruša beschreibt und im Regal nicht nur einen Fernseher und eine Fliege ausmacht, sondern auch die gerahmten Bilder zweier serbischer Kriegsverbrecher auf Spitzendeckchen. Und sich dann erst mal setzen muss. Wie schon in Stanišićs Erstling »Wie der Soldat das Grammophon repariert« werden Grausamkeiten durch diese Art zu schreiben erträglicher und unerträglicher zugleich. Erträglicher, weil man das Menschliche hinter den Gräueltaten besser erkennen kann, unerträglicher, weil man sich dabei ertappt, über Gräuel zu lachen und oder sich über eine großartige Formulierung darüber zu freuen.

Klar geht es in dem Buch auch um Jugoslawien und seinen Zerfall, um schwieriges Ankommen in Deutschland, um Nationalismus und um das Bedürfnis, dazu zugehören. Aber »Herkunft« läuft niemals Gefahr, sich im Klischee der zerrissenen Zuwanderer-Biografie zu verfangen. Vielmehr beharrt der Roman auf der Zufälligkeit selbiger: »Jedes Zuhause ist ein zufälliges. Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann.« Doch Stanišić weiß auch, dass man immer wieder auf Herkunft zurück geworfen wird, ganz gleich wie unwichtig sie für einen selbst ist. Deshalb schadet es vermutlich nicht, sie zumindest zu kennen.

Um von Herkunft zu erzählen, erzählt Stanišić von Roter Stern Belgrad und Ivo Andrić, vom Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund, von Hans Fallada und Jospeh von Ajhendorf, der irgendwann zu Eichendorff wird. Die schönsten Geschichten handeln von der ARAL-Tankstelle in Emmertsgrund, jene »soziale Einrichtung«, die sich am stärksten für die Integration der Jugendlichen im Ort eingesetzt hat und wo die Begeisterung des Autors übers geschriebene Wort mit »ARAL-Literatur« seinen Anfang nahm. Und von der Heimat, die für Stanišić ein Zahnarzt ist. Am Ende tauchen sogar noch Drachen auf…

Stanišić erzählt in »Herkunft« konsequent mittels der Vergangenheit über die Gegenwart und hat dabei einen Roman geschaffen, der zugleich wunderbar unterhaltsam und kritisch ist. Er ist vielleicht das Beste, was es aktuell über Nationalismus zu lesen gibt.

Larissa Schober

 

Saša Stanišić: Herkunft. Luchterhand Literatur Verlag, München 2019. 368 Seiten, 22 Euro.

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