Thomas Schmidinger: »Die Welt hat uns vergessen«
Eine der brutalsten Verbrechen des sogenannten Islamischen Staates war der Genozid 2014 an den JesidInnen im Nordirak. Detailliert skizziert der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger die Verbrechen, das Ausbleiben von Hilfe und die Verzweiflung der Angehörigen. Die Stärke seines Buches Die Welt hat uns vergessen sind die zahlreichen Interviews im Anhang des Buches, die den JesidInnen eine Stimme verleihen. Die langjährige intensive Feldforschung des Autors spiegelt sich aber nicht nur hier wider.
Schreiben gegen das Vergessen
Die ersten Teile des Buches behandeln die Geschichte der JesidInnen und tragen die gängige Literatur und mündliche Überlieferungen zusammen. Schon hier zeigt sich eine erste Annäherung zum Buchtitel: Die hauptsächlich mündlich überlieferte Religion und Geschichte der JesidInnen birgt in der modern-positivistischen Geschichtsschreibung die Gefahr des Vergessenwerdens. Wer keine ‚verbriefte‘ Geschichtsschreibung vorlegen kann, fällt unter den Tisch. Und in der Gebirgsregion des Sinjar-Gebirges im Nordirak blieben JesidInnen weitgehend unter sich.
Hinzu kommt ihre historische Marginalisierung, die bis heute anhält: Die Weigerung kurdischer Milizen und arabischer Gruppen, den JesidInnen gegen den IS beizustehen, entwickelte sich aus der traditionellen räumlichen Isolation im Grenzland, aus der Zerteilung in vielfache Interessensgruppen sowie aus den Vorurteilen, die sich über Generationen hielten. Die Brandmarkung von JesidInnen als vorgebliche »Teufelsanbeter« oder »schmutzige, unzivilisierte Menschen« sind Ausdruck dieser Marginalisierung. Das Buch hat demgegenüber das klare Anliegen, an das Leid und die Verfolgung der JesidInnen zu erinnern. Das ist notwendig: Als beispielsweise US-Präsident Trump jüngst die jesidische Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad empfing, musste sie ihm den Grund für ihren Aktivismus erst erklären.
Das bezüglich Fachbegriffen und geographischen Orten dicht geschriebene Buch hätte von einem Glossar, mehr detaillierten Karten und einem intensiveren Lektorat profitiert. Doch der Autor stößt wichtige Fragen an, etwa: Gibt es einen Standard für ethnische Gruppen, der sie ‚erinnerungswürdig‘ macht? Das Buch liefert somit einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie man Minoritäten schützen kann. Dies meint neben militärischem Beistand auch den soziokulturellen Erhalt der Geschichte und Integrität einer Gruppe. Indem Schmidinger sich der Kultur und Geschichte der JesidInnen nähert, schafft er Aufmerksamkeit für eine auch im Publikationswesen marginalisierte Minderheit.
Johannes Schmitthenner
Thomas Schmidinger: »Die Welt hat uns vergessen«. Der Genozid des »Islamischen Staates« an den JesidInnen und die Folgen. Mandelbaum Verlag, Wien 2019. 232 Seiten, 20 Euro.