Najem Wali: Die Balkanroute
Urszenen der Migration
Der Titel Die Balkanroute des neuen Buches von Najem Wali weckt Assoziationen. Er ruft die Bilder von den »Flüchtlingsströmen« aus dem Sommer 2015 wach, als die »Balkanroute« zu einem politischen Kampfbegriff wurde. Doch Wali überrascht: Er widmet den aktuellen Ereignissen rund um die »Fluchtroute« höchstens ein Drittel seines Buches. Denn die Balkanroute ist mehr: sie war und ist »Handelsweg, vorzügliche Passage militärischer Unternehmungen zur Reichsexpansion und im Dienste religiöser Mission sowie (…) schlichte(s) Einfallstor für Raubzüge«. Außerdem ist sie eine viel genutzte Reiseroute.
Zwar waren es auch für den Autor die Ereignisse in den Jahren 2015/16, die ihn dieses Buch schreiben ließen. Doch reicht sein Interesse weiter zurück. Er selbst kam 1980 auf dieser Route aus dem Irak nach Europa, und etwa zwanzig Jahre später trat seine Schwester den gleichen Fluchtweg an. In seinem Buch verknüpft er die eigenen Erfahrungen mit einer jahrtausendealten Geschichte von »Weggehen und Heimkehr, Abbrechen und Aufbauen, Zurücklassen und Mitsichtragen«.
Nach einführenden Seiten, in denen der Autor seine Kritik an der europäischen Politik zum Ausdruck bringt, die die Balkanroute zum »Massengrab« werden lasse, beginnt er bei der »Urszene der Auswanderung«, bei Abraham. Nun nimmt er seine LeserInnen mit zu verschiedenen historischen Orten: Von den Babyloniern über die Hellenen zu Alexander dem Großen, zu einem 1304 geborenen Marokkaner und schließlich zu einem Zeitzeugen des Ersten Weltkrieges.
Als LeserIn kann man sich an der poetischen Sprache erfreuen, durch die es Wali gelingt, die unterschiedlichen Geschichten in einem einzigen literarischen Gemälde zu vereinen. Doch die historischen Ausflüge sind teilweise langwierig. Sie reihen sich aneinander wie Beiträge in einem Sammelband. Der Autor enthält sich gekonnt jeglicher Wertung, doch gerade diese unbeteiligte Position irritiert. In Anbetracht der tragischen Berühmtheit, die die Route in den letzten drei Jahren erfahren hat, wünscht man sich streckenweise eine kritischere Auseinandersetzung. Dies ändert sich im letzten Viertel des Buches, das von den vorherigen Seiten durch eine Bilderstrecke getrennt ist, die die LeserInnen in die Gegenwart zurückholt. Die Bilder sind unkommentiert, lassen aber vermuten, dass es sich um persönliche Aufnahmen von der Balkanroute handelt, die während der beiden Reisen des Autors dorthin entstanden sind. Sie zeigen überwiegend Menschen; ob diese fliehen, reisen, dort wohnen oder als Volunteers unterwegs sind, ist oftmals nicht ersichtlich.
Im letzten Teil des Buches schildert Wali seine persönlichen Eindrücke aus Idomeni und Lesbos, den beiden griechischen Hot Spots der »Balkanroute«. Anders als zuvor bietet der Autor nun auch eine tiefer gehende Analyse, ohne dabei vom poetischen Erzählstil abzuweichen. Es sind besonders diese letzten vierzig Seiten, die das Buch lesenswert machen, aber auch nicht ohne die vorangegangenen stehen könnten. Damit gelingt es Wali seinen Anspruch umzusetzen, »kaleidoskopartig Szenen aus der Bewegungsgeschichte der Route anzuordnen und diese durch die Geschichte hindurch zu kartografieren«. Er zeigt, dass sich die Geschichte unendlich wiederholt. Die Balkanroute ist wahrlich »Fluch und Segen der Jahrtausende«.
Anna Sophia Clemens