Ngugi wa Thiong‘o: Dekolonisierung des Denkens
Macht der Sprache – Sprache der Macht
Man stelle sich vor, die deutsche Literatur wäre überwiegend auf Japanisch verfasst, obwohl die meisten Deutschen diese Sprache nicht beherrschen – eine absurde Idee. Aber genau so war die Lage in den unabhängig gewordenen Ländern Afrikas südlich der Sahara (und ist sie weitgehend auch heute noch), als der damals vierundzwanzig Jahre junge Kenianer, der als James Ngugi geboren wurde, 1962 zur ersten Konferenz afrikanischer Schriftsteller englischer Sprache nach Kampala kam. Es dauerte fast zwanzig Jahre mit vielen schmerzlichen, aber auch erhellenden Erfahrungen, bis er »Die Sprache der afrikanischen Literatur« (1981), »Die Sprache des afrikanischen Theaters« (1984) und »Die Sprache des afrikanischen Romans« (1985) publizierte.
Seine mehrfach überarbeiteten und mit Diskussionen und weiterführenden Studien angereicherten Essays wurden 1986 mit einem ausführlichen Vorwort unter dem Titel »Decolonising the Mind – The Politics of Language in African Literature« veröffentlicht. Es brauchte weitere 25 Jahre, bis der Band auf Französisch erschien, und 31 Jahre bis zur nun endlich erschienenen deutschen Übersetzung. Ihr Titel lautet Dekolonisierung des Denkens, ergänzt ist sie mit Kommentaren von jüngeren afrikanischen SchriftstellerInnen, einem leider unvollständigen Personen- und Werkverzeichnis, aber dafür mit zahlreichen nützlichen Anmerkungen.
Manche Termini wie »Kompradoren«, »Imperialisten« und »speichelleckende, einheimische Klassen« mögen heute antiquiert erscheinen. Doch haben die Texte von Ngugi wa Thiong‘o (der James im Namen fehlt längst) keineswegs an Relevanz und Aktualität eingebüßt. Ihre Lektüre macht uns die Bedeutung von Sprache als Kommunikation und als Kultur jederzeit und überall bewusst. Sie führen uns vor Augen, von welcher Grundlage aus wir die Welt betrachten und welches Selbstverständnis wir daraus entwickeln. Wenn bereits dem Schulkind eine fremde Sprache aufgezwungen und der Gebrauch der Erstsprache mit Strafen geahndet wird – wie es selbst jungen afrikanischen AutorInnen noch widerfahren ist – wird deutlich, dass Sprachpolitik ein wichtiger Aspekt sowohl kolonialer als auch neokolonialer Machtausübung ist: Sie dient als »Zauberformel für den Eintritt in die heiligen Hallen der kolonialen Elite« und gleichzeitig zur »kolonialen Entfremdung, die nicht mit der Unabhängigkeit beendet ist«.
Sicherlich beweisen die lebendigen postkolonialen Studien und Diskussionen die Fortschritte, die seit der Zeit gemacht wurden, als Franz Josef Strauß als Präsident des Bundesrats 1984 nach Togo reiste, um mit seinem Freund Präsident Eyadema den hundertsten Geburtstag der Berliner Afrika-Konferenz zu feiern. Auf dieser Konferenz waren mit den Grenzen der Kolonien in Afrika südlich der Sahara auch die vier europäischen Sprachzonen geschaffen worden – als Tabula Rasa für die afrikanische Literatur. Damit wurden Existenz und Werke der zahlreichen afrikanischen Schriftsteller bedeutungslos, die unter anderem auf Kiswahili, Joruba, Wolof, Amharisch, Arabisch geschrieben haben, teilweise seit Jahrhunderten. Wer kennt schon Namen wie David Diop, Obi Wali oder Robert Shaaban?
Ngugi wa Thiong‘o ist bei uns vor allem als Romanautor bekannt, als seit Jahren erfolgloser Kandidat für den Literaturnobelpreis. Für jüngere afrikanische AutorInnen jedoch bedeutet sein Werk »Dekolonisierung des Denkens« eine »Erweiterung der theoretischen, methodologischen und konzeptionellen Vorstellungswelt«, wie es der Kameruner Philosoph Achille Mbembe formuliert. Sie sei unabdingbar, um durch »Dis-Alienation« die tiefe ethische Krise zu überwinden, in die der Neokolonialismus die unabhängigen Staaten Afrikas gestürzt hat, mit aktiver Hilfe der MachthaberInnen und dienstbaren Eliten.
Der senegalesische Autor Boubacar Boris Diop hält die afrikanische Literatur in Kolonialsprachen für ein Übergangsphänomen und verweist auf seinen Landsmann Cheikh Anta Diop, der bereits 1948 auf der ästhetischen und emotionalen Notwendigkeit bestand, in afrikanischen Sprachen zu schreiben und zu publizieren. In seinem 1954 veröffentlichten Standardwerk »Nations Nègres et Culture« argumentiert er, dass sonst Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung nicht möglich seien. Auch für Sonwabiso Ngoowa aus Südafrika war die Lektüre von »Dekolonisierung des Denkens« ein einschneidendes Erlebnis, das für ihn essentielle Fragen aufwirft: Leben wir wirklich in postkolonialen Zeiten? Weder Wirtschaft noch Bildungswesen wurden dekolonisiert. An den Universitäten entstehen Eliten, die dem Rest der Bevölkerung fremd sind, die nur ein Ziel haben: Machtpositionen zu besetzen.
Ngugi wa Thiong‘os Sohn Mukoma wa Ngugi fordert »die Befreiung aus dem metaphysischen Imperium des Englischen« und fordert dazu auf, sich vorzustellen, Shakespeare und Spencer hätten auf Französisch geschrieben und nur ein Prozent der Bevölkerung könne ihre Werke lesen. Petina Gappah aus Simbabwe erinnert sich an das ambivalente Verhältnis, das sie auf Grund des englischsprachigen Schulunterrichts zu ihrer Erstsprache Shona entwickelte, die sie in der Oberschule als Zweitsprache lernte. Sie hat lange gebraucht, diese nicht als minderwertig zu sehen und sie lieben zu lernen, und ohne Thiong‘os »Decolonising the Mind« hätte sie dem Sprachproblem vielleicht keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass der Gebrauch der englischen Sprache inzwischen »Teil der afrikanischen Modernität ist, wie Kleidung und Institutionen« und dass man auch in einer anderen als der Erstsprache schreiben kann: Es geht um die Entkolonisierung des Denkens.
Die Lektüre von »Dekolonisierung des Denkens« bietet eine willkommene und notwendige Gelegenheit, das westliche Sprach- und Kulturverständnis zu hinterfragen und festzustellen, dass »Pluriversität« statt Universalität (Achille Mbembe) unser Denken und Handeln bestimmen sollte.
Eva-Maria Bruchhaus