Christian Jakob, Simone Schlindwein: Diktatoren als Türsteher Europas
Biometrische Entwicklungshilfe
Im ersten Halbjahr 2017 stellten laut europäischem Statistikamt nur halb so viele Menschen einen Asylantrag in einem EU-Mitgliedstaat wie im gleichen Zeitraum 2016. Dieser Rückgang wird von europäischen PolitikerInnen als Erfolg verbucht. Er ist das Resultat einer perfiden Politik der Flüchtlingsabwehr, die mit den wohlklingenden Absichtserklärungen wie »Fluchtursachen bekämpfen« und »Migrationspartnerschaften« bemäntelt wird. Die taz-JournalistInnen Christian Jakob und Simone Schlindwein haben auf zahlreichen Recherchereisen untersucht, was hinter diesen Zielen steckt.
In ihrem neuen Buch befassen sie sich mit der europäischen »Nachbarschaftspolitik« gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Die Einbindung von Staaten, die auf Grund ihrer menschenrechtsverachtenden Politik oder wirtschaftlichen Unwichtigkeit lange Zeit keine Partnerländer der EU waren, ist neu. Nun werden Diktatoren als Türsteher Europas skrupellos zur Verwirklichung europäischer Interessen eingesetzt, wie die AutorInnen bereits im Titel deutlich machen.
So macht es beispielsweise die »Migrationspartnerschaft« mit dem Wüstenstaat Niger möglich, Flüchtende weit vor den EU-Grenzen zu identifizieren und an der Weiterreise zu hindern. Dies erspart der EU teure Abschiebeflüge, den Konflikt mit Menschenrechten in Europa und den bürokratischen Aufwand, den es bedarf, um Schutzsuchende abzuschieben. Teil des Partnerschaftsabkommens sind High-Tech-Überwachungstechnologien und Grenzschutz. Davon profitiert auch die europäische Waffenindustrie – das kurbelt die Wirtschaft an. Schlindwein und Jakob sprechen zudem von »biometrischer Entwicklungshilfe«. Sie zeigen auf, wie die Entwicklungszusammenarbeit zunehmend an die Kooperation bezüglich Grenzschutz, Migrationsüberwachung und die Einführung biometrischer Pässe gebunden wird.
Die AutorInnen zeichnen nach, wie europäische Außenpolitik auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten immer mehr zu Innenpolitik wird, indem dort europäische Interessen bei Wirtschaft, Sicherheit und Bewegungsfreiheit durchgesetzt werden. Das Paradigma der Entwicklungshilfe verlagert sich. Heute geht es weniger um die Einhaltung der Menschenrechte oder den Abbau von Korruption, sondern um die »Etablierung von Sicherheit« wie Merkel beim G20-Gipfel im Juni 2017 erklärte. Der Untertitel des Buches macht das deutlich: Es geht darum, »wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert«.
Das Buch liest sich spannend wie ein Polit-Thriller, der den Zynismus europäischer PolitikerInnen aufzeigt. Dies gelingt nicht zuletzt durch den sarkastischen Unterton, der bei den präzisen Erläuterungen politischer Abkommen und ihrer praktischen Umsetzung mitschwingt. Die Schilderung der absurden, teils grotesken Sachverhalte erinnert streckenweise an das Genre der schwarzen Komödie. Dennoch können die LeserInnen an keiner Stelle vergessen, dass die Thematik bitterer Ernst ist. Allein der 48 Seiten lange Anhang mit Verweisen auf Abkommen und Verträge, Länderkarten und –register stellt die aktuelle Realität der Flüchtlingsabwehr unmissverständlich dar. Damit ist das Buch ein trauriges Zeitzeugnis zum Zustand Europas.
Anna Sophia Clemens