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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 361 | Tourismus & Migration Kaschmir - Eine eingefrorene Tragödie

Kaschmir - Eine eingefrorene Tragödie

Der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist kaum lösbar. Schon bei der Sezession Pakistans von Indien 1947 wurde die Region Kaschmir von Bürgerkrieg und Vertreibungen erfasst. Der Kampf um die nationale Zugehörigkeit der muslimischen Mehrheit wird bis heute blutig ausgetragen. Die Situation ist verfahren: Indien reagiert auf alle Autonomiebestrebungen mit harter Repression, Pakistan nutzt den Konflikt für eigene Zwecke. (Dies ist die Langfassung, nur fürs Netz).

von Jakob Rösel

Der Kaschmir-Konflikt teilt mit dem Konflikt um Israel seine Langlebigkeit, Unlösbarkeit und seine großen geopolitischen und potentiell nuklearen Implikationen. Allerdings wird er von dem „eurozentrischen“ Westen seit 70 Jahren unterschätzt. Russland wurde von Winston Churchill charakterisiert als ein Rätsel, behütet von einem Mysterium, umringt von einem Geheimnis. Kaschmir wäre dann ein Dilemma, am Beginn einer Sackgasse mit einem unausweichlichen Resultat, einer Tragödie.

Kaschmir ist ein Dilemma, weil zwei Konkurrenten, Pakistan und Indien, einmal als islamischer, einmal als säkularer Staat aus moralisch-ideologischen Gründen Kaschmir beanspruchen müssen. Es ist eine Sackgasse, weil diese Konkurrenz nach vier Kriegen und 70 Jahren der Konfrontation kaum Spielraum für dritte Wege, Übergangslösungen, Kompromisse lässt. Und zuletzt ist es eine Tragödie, weil die okkupierte Bevölkerung, die muslimische Mehrheit stets Widerstand leisten wird. Dagegen ist der stärkere Akteur, die Regierungs- und Besatzungsmacht Indien, bereit, diesen Widerstand um jeden militärischen, finanziellen und moralischen Preis zu unterdrücken.

 

Wie konnte es dazu kommen?

„Geografie kann man nicht besiegen“, sagte Napoleon Bonaparte. Deshalb sollten politische Erklärungen immer mit ihr beginnen. Der indische Bundessstaat Jammu und Kaschmir ist hervorgegangen aus einem einheimischen, von einer Hindu-Dynastie beherrschten Königreich, das im 19. Jahrhundert von der britischen East India Company – gegen Zahlung einer hohen Anerkennungsprämie – bestätigt und anschließend für geostrategische Aufgaben benutzt wurde: eine perfekte imperiale Camouflage. Am Ende des 19. Jahrhunderts umfasste der Fürstenstaat Kashmir und Jammu ein Terrain von der Größe Großbritanniens. Es stand formal unter der Herrschaft eines Rajas (ein hinduistischer Herrschertitel) aus der Dogra-Dynastie. Die beiden Hauptstädte waren Jammu im überwiegend hinduistischen Süden und Srinagar im fast vollständig muslimischen Hochtal von Kaschmir. Das Reich und seine Bezeichnung waren allerdings eine Mogelpackung. Vier Fünftel des Terrains und dessen kleine Bevölkerungsgruppen hatten seit jeher außerhalb der Kontrolle Kaschmirs oder gar Jammus gestanden. Auch vereinzelte Kriegszüge hatten diese immensen Peripherien nicht unter dauerhafte Dogra-Herrschaft gebracht. Das besorgten erst die Feldzüge und anschließenden Verträge der britisch-indischen Verwaltung, formal im Namen und im Schatten der Dogra-Dynastie.

Das gesamte Gebiet wurde und wird strukturiert von den riesigen Gebirgszügen des Himalayas und seinen gewaltigen Anschlussgebirgen im Westen. Im Osten türmt sich das Himalayagebirge mit seinen Hochflächen auf. Hier erstreckt sich seit mehr als einem Jahrtausend das westliche „Kleintibet“ von Leh/Ladakh, die wichtigste erste Etappe in Richtung Tibet und Lhasa. Von Osten fließt auch der über tausend Kilometer lange Oberlauf des größten Flusses auf dem indischen Subkontinent, des Indus. Der Karawanenweg vom Kaschmir-Hochtal nach Leh führt teilweise an ihm entlang. Weiter im Westen biegt der Indus schließlich nach Süden, um am Ende in das einem Ägypten vergleichbare Indus-Tal, einer riesigen Schwemm- und Wüstenebene, einzutreten.

Nördlich des Indus erhebt sich das Karakorum-Gebirge, jene oft 7.000 bis 8.000 Meter hohe Wand, die die Taklamakan-Wüste und ihre Seidenstraßen in Richtung Süden abschirmt. Wenige und schwierige Pässe überqueren sie. Für die Pässe und die anschließende Nord-Süd Verbindung kam seit jeher die immense westliche Peripherie ins Spiel. Hier verlief entlang des Indus, weiter nördlich entlang der Nebenflüsse Gilgit und Hunza ein Handelsweg Richtung Karakorum und Seidenstraße. Während in den östlichen Hochebenen und Flusstälern buddhistische TibeterInnen siedelten, kontrollierten sunnitische beziehungsweise schiitische Bergstämme, einmal westlicher, ein anderes Mal östlicher, ursprünglich tibetischer Herkunft diesen Handelsweg und seine Karawansereien – mit den Bergfestungen Gilgit und Baltit. Demographisch fielen diese Hochland- und Händlergruppen nie ins Gewicht. Umso wichtiger aber waren für die Briten ebenso wie heute für Pakistan, Indien und China diese geostrategischen Peripherien.

Seit dem Wiener Kongress 1814/15, beschleunigt seit der Jahrhundertmitte, wird vom Balkan über den Kaukasus, Zentralasien, Afghanistan bis nach Westchina „Das Große Spiel“ gespielt. Im Konflikt zwischen Großbritannien und Russland in Zentralasien geht es um die  Eindämmung entweder des zaristisch-russischen oder des britisch-indischen Einflusses. Da russische Generäle, Eisenbahningenieure, Diplomaten, Geographen, Spione oder Händler von Zentralasien bis Xinjiang unterwegs sind, brauchen Kalkutta und London Horchposten, Zollstationen und zunehmend exakt ausgehandelte Grenzen in diesem Gebiet. Schließlich stößt das ‚Königreich‘ im Westen fast auf den afghanischen Wachankorridor, ein von Petersburg und London geschaffenes Niemandsland, das hier Zarenrussland und Britisch-Indien formal an einem „Zusammenstoß“ hindern soll. Hier stößt man jenseits des Karakorums formal auf Mandschuchina, real auf unberechenbare Warlords und im Osten auf die immer noch rätselhafte, hermetisch abgeschirmte tibetische Theokratie. Um dieses Territorium (auf dem sich aber über 90 Prozent der Bevölkerung konzentriert), das Hochtal von Kaschmir und das Flachland von Jammu, kümmert sich das Empire seinerzeit wenig.

Es finden sich hier geografische, ethnografische und religiöse Besonderheiten. Das Hochtal ist von riesigen Bergen und Bergketten umgeben. Ihm entspringt ein Fluss, der Jhelam, der westlichste der fünf Flüsse, der „fünf - ab“, die den „pandsch-ab“ bilden. Seit Jahrtausenden bilden er und sein Handelsweg die Verbindung zum Süden: wirtschaftlich, militärisch, kulturell. Das Hochtal ist ein trocken gelaufener, vorsintflutlicher See. Der Talgrund, der einstige Schlamm ist enorm fruchtbar. Das Klima ist gegenüber der unbeschreiblichen Hitze Nordindiens äußerst angenehm. Den buddhistischen, hinduistischen, islamischen und vor allem den Mogul-Herrschern gelten das Tal und die Residenzstadt Srinagar deshalb als Paradies. Hier im Kaschmir-Hochtal leben zwei Drittel der Bevölkerung. Seit Jahrhunderten sind sie zu einem synkretistischen, von Mystik und Heiligenverehrung geprägten Islam übergetreten. Diese mehr als 90 Prozent Muslime werden seit dem 16. Jahrhundert von einer schmalen, hinduistischen, brahmanischen Elite verwaltet, im Namen der Mogulen in Delhi, und im 19. Jahrhundert im Namen der Dogras.

Diese ‚Kaschmiri Pandits‘ gehören indienweit zu den angesehensten brahmanischen Clans, ‚Gotras‘. Pandit J. Nehrus Familie stammt von ihnen ab. Ein Leben lang romantisiert und dogmatisiert Nehru seine weitgehend imaginierte Heimat. Nach Süden und Westen wird das Hochland von der 4.000 Meter hohen Pir Panjal Bergkette abgeschirmt. An deren Südhängen und im Flachland erstreckt sich Jammu: Es gehört damit geographisch, klimatisch, ethnisch bereits zur Ebene, zum Punjab. Hier wird Panjabi, nicht Kaschmiri gesprochen und auch geschrieben – also eine andere Schrift benutzt: Devanagari an Stelle des Arabischen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind Hindus, nur ein Drittel Muslime.

 

Zu einer besonderen politischen und ethnischen Komplikation trägt noch das westliche Gebietsviertel bei, das lange Zeit auf sich selbst gestellte Kleinfürstentum Poonch/Punch. Hier leben seit etwa sechs Jahrhunderten militante Muslimgruppen, ‚Martial Races‘, die vor allem in der britischen Sepoy-Armee dienen. Während die Kaschmiri-Pandits den Dogra-Herrschern die Verwaltung besorgten, knüppelten diese Paschtunen und Pahari-Krieger eventuelle Rebellionen nieder. Allerdings brach seit den 1920er Jahren ein über Jahrzehnte währender Streit zwischen Punch und Srinagar aus.

Aus der Perspektive des imperialen Kalkutta stand damit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im strategisch sensiblen Nordwesten eigentlich alles zum Besten. Innerindisch aber beginnen jetzt auf Dauer unkontrollierbare Entwicklungen. Die von Nehru offiziell, von Gandhi „charismatisch“ geführte Kongressbewegung entfaltet seit 1920 Massenwirkung. Sie fordert ein unabhängiges Indien für eine einzige, säkulare Nation. Aus einer von den Briten angeregten muslimischen Honoratiorenassoziation, der „Muslimliga“, entsteht schließlich 1936 eine muslimische Massenpartei, nach dem Modell des und in tödlicher Feindschaft zum Kongress. Die Muslimliga spricht von einem Indien der zwei Nationen, einer Hindu-Nation und einer paritätischen Muslim-Nation. Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs fordert sie dafür ein „Pakistan“ (ein Akronym für Punjab-Kaschmir-Sindh-Belutschistan) für die Muslime.

Dieser Unabhängigkeitskampf überträgt sich seit 1920 auch in die Hinterhöfe Britisch-Indiens, also in die mehr als 500 Fürstenstaaten, die ein Drittel der Fläche einnehmen und ein Fünftel der Bevölkerung Britisch-Indiens aufweisen. Vor allem wird die Frage nach einer säkularen Nation oder zweier religiöser Nationen für das riesige und vielschichtige Jammu und Kaschmir von Bedeutung. Hier haben die Dogra-Herrscher, auf Brahmanen und Punch-Krieger gestützt, die Bevölkerung an jedweder Bildung, Regierungsbeschäftigung und an sozialem Aufstieg gehindert - vor allem die zwei-Drittel-Mehrheit der (Kaschmiri-)Muslime. Zwei Hochtalmuslime gründen jetzt eine Jammu und Kaschmir Muslimkonferenz, die wenig später von einem der zwei Mitbegründer, Sheikh Abdullah, in „National Conference“ (NC) umbenannt wird. Sheikh Abdullah will den Widerstand gegen die Dogra-Rajas vereinen. Er sympathisiert mit den Kongressidealen und kennt Nehru. Währenddessen wird das alles überspannende Ziel der nationalen indischen Unabhängigkeit seit 1939 durch den globalen Zweiten Weltkrieg aufgeschoben. Erst nach Kriegsende 1945 steht im endgültig angeschlagenen Empire die Unabhängigkeit Indiens – aber noch lange nicht die gesamte Dekolonisierung – auf der Tagesordnung.

Im Winter 1945/46 wird eine zweite, indienweite Wahl durchgeführt – wie 1936 mit einem auf 20 Prozent der Erwachsenenbevölkerung erweiterten Stimmrecht. Diese Wahl ist eindeutig in ihrer Polarisierung. Der Kongress repräsentiert jetzt die überwältigende Mehrheit der Hindus, alle kleineren, etwa regionalen Parteien sind marginalisiert. Die Muslimliga dagegen hat die Masse der Muslime hinter sich gebracht. Jinnah, der Führer der Muslimliga, bislang „The Sole Spokesman“ für Pakistan, hat damit die Forderung nach einem Separatstaat und deshalb die Teilung Indiens unabwendbar gemacht. 1946 werden die Gewaltkreisläufe, die Hindu-Muslim-Massaker unkontrollierbar. Die Basis der kolonialen Herrschaft, der Befehlsgehorsam der indischen Armee zersplittert: Muslimsoldaten schießen nicht mehr auf Muslimmobs, Hindutruppen nicht mehr auf Hindus. Louis Mountbatten wird als letzter Vizekönig und Generalgouverneur nach Neu-Delhi entsandt. Er soll das „Endgame“ beschleunigen, denn bis zur Jahresmitte 1947 muss Indien unabhängig und zugleich geteilt werden: in ein Indien, ein West- und ein Ostpakistan. Erst seit 1945 ist ein weiteres Problem in das Zentrum der Entscheidungen gerückt. Was soll mit den Fürstenstaaten, vor allem den größten, im Unabhängigkeitsprozess geschehen? Wohin gehen etwa Jammu und Kaschmir?

Seit Beginn der Eroberung des Subkontinents 1756 hatte London das ihm nützliche und ritterromantische Konzept der Suzeränität entwickelt. Dabei erkennt ein formal souveräner Staat die Oberhoheit eines anderen an.  Britisch-Indien war (weitgehend) souverän; die Fürstenstaaten dagegen standen in nobler Vasallität, in „Suzeränität“ gegenüber dem britischen Vizekönig in Kalkutta und später Neu-Delhi. Innenpolitisch völlig eigenständig, hatten sie die Außen-, Bündnis- und Verteidigungspolitik an Kalkutta abgetreten. Ebenso waren bestimmte Verkehrsrechte abgetreten, damit Kalkutta Telegrafen- und Eisenbahnlinien durch ihr Gebiet bauen konnte. Besonders geschulte Political Agents wachten über das Wohlverhalten dieser Rajas, Nawabs, Nizams oder Bahadurs. Unabhängigkeit bedeutet gemäß dieser Doktrin den Wegfall der bisherigen Vasallität, „The Lapse of Paramountcy“. Die Fürsten, und nur sie, waren jetzt wieder unabhängig. Damit konnten sie gehen, wohin sie wollten: zu Indien, ins neue Pakistan oder in die Unabhängigkeit. Allerdings jenseits dieser aristokratischen Fiktion herrschte von Anfang an die Realpolitik. Es war für Indien und das künftige Pakistan selbstverständlich, dass sie nicht nur die kleinen, sondern auch die größten Fürstentümer innerhalb ihrer Territorien integrieren würden, mit oder ohne Gewalt. Offen blieb dabei die Zukunft von Jammu und Kaschmir als größter, kompliziertester und moralisch wie geopolitisch bedeutendster Fürstenstaat.

 

Das Dilemma

Für Jinnah und die Muslimliga war es selbstverständlich, dass nicht das Votum eines despotischen Fürsten, sondern die Religionszugehörigkeit der Mehrheit einer Provinz oder eines Fürstenstaates darüber zu entscheiden hatte, ob das Gebiet Pakistan oder Indien zugeschlagen wurde. Pakistan sollte ein Staat für die Muslime werden. Kaschmir als ein mehrheitlich muslimisches Fürstentum an der nordöstlichen Grenze gehörte somit natürlicherweise zu dem neu entstehenden Pakistan. Auch deshalb, weil alle Verkehrsverbindungen und wirtschaftlichen sowie kulturellen Kontakte seit Jahrhunderten durch das Jhelam-Tal von Westen, jetzt von Pakistan aus, ins Hochtal liefen. Nach Osten, in Richtung Ostpunjab und Delhi gab es nur eine zumeist unpassierbare Piste.

Für die „One Nation“-Theorie des Kongresses und Nehrus zeigte sich ein gegenläufiger staatsphilosophischer und moralischer Zwang. In der säkularen Nation gab es außer der Inselgruppe der Lakkadiven kein Territorium mit muslimischer Mehrheit. Das Königreich als künftiger Bundesstaat war und wäre damit eine offensichtliche Bestätigung und Legitimierung des für den Bestand Indiens unersetzbaren Säkularismus: Auch Muslime gehören zu uns. Die Zugehörigkeit des Königreichs steht darüber hinaus für Nehru auch demokratisch außer Frage. Der politische Führer und Sprecher der Bevölkerung, nicht nur der muslimischen Kaschmiris, Sheikh Abdullah hat die Muslimkonferenz zur „National Conference“ umbenannt; die noch existierende “Muslim Conference“ ist bedeutungslos. Die Führer beider Parteien sitzen zum Zeitpunkt des „Endgame of Empire“ im Gefängnis. Aber an der Popularität Abdullahs herrscht kein Zweifel, und Nehru ist sein Freund.

Die beiden künftigen Staaten, Indien und Pakistan, die säkulare und die muslimische Nation müssen also aus Gründen ihrer Basislegitimität, ihrer raison d’être, auf die Herrschaft über Kaschmir bestehen. In dem anlaufenden Kräftemessen haben aber der Kongress und Nehru unterstützt von der scheidenden Kolonialmacht die weit stärkeren Machtmittel. Und diese können sie Monate vor der Unabhängigkeit plus Teilung einsetzen. Nach dem Teilungsplan gehen die Muslimmehrheitsprovinzen im Westen, Sindh und die North-West Frontier Province (NWFP), an Pakistan. Über das Schicksal Belutschistans, das heißt des unabhängigen „Staates von Kalat“, hüllt man sich in Schweigen. Das wird 1948 im Rahmen einer pakistanischen Militärintervention erledigt. Die riesigen, bevölkerungsreichsten Provinzen Punjab im Westen, Bengalen im Osten müssen allerdings geteilt werden, weil sie jeweils zu einer Hälfte von Hindus und einer Hälfte von Muslimen bewohnt werden. Der Ostpunjab geht an Indien, und Ostbengalen bildet Ostpakistan, das künftige Bangladesh.

Der Experte, der den Teilungsplan ausarbeitet, der Kolonialbeamte Sir Radcliff hat Indien zuvor noch nie betreten. Deshalb gilt er als unparteiisch. Er arbeitet vorgeblich vollständig abgeschirmt. Bengalen und Punjab sollen administrativ schonend geteilt werden, anhand eines einfachen Kriteriums: Muslimmehrheitsdistrikte gehen im Punjab nach Westen, an Pakistan; Hindumehrheitsdistrikte nach Osten, an Indien. Dank dieser Maßnahme bleiben die essentiellen Verwaltungsbausteine von Britisch-Indien, die Distrikte, mit ihren Gerichten, Archiven oder Steuerregistern den Nachfolgestaaten erhalten. Diese Regel wird eisern eingehalten – bis auf zwei im Süden von Jammu gelegenen Punjab-Distrikten, Gurdaspur und Amritsar. Hier wird auf der Unterdistriktebene geteilt. Dadurch bleibt Indien zukünftig eine Eisenbahnverbindung zum Fürstenstaat, nach Pathankot, und damit der Zugang zu einer Bergstraße erhalten, der einzigen Verbindung ins Hochtal. Pakistan betrachtet das bis heute als Verrat. Erst am Tag der Unabhängigkeit werden in Punjab und in Bengalen die neuen Grenzen offengelegt. Der Punjab versinkt im Chaos. Riesige Massen von verzweifelten Bauern, Hindus, Sikhs aus dem Westpunjab und umgekehrt Muslime aus dem Ostpunjab flüchten nach Indien und Pakistan. Insgesamt werden 12 Millionen Menschen auf beiden Seiten der neuen Punjabgrenzen vertrieben. Die Zahl der Toten kennt niemand; Schätzungen schwanken zwischen einer halben Million und einer Million.

In Kaschmir herrscht zunächst trügerische Ruhe: Der Dogra-Herrscher kann sich zwischen riskanter Unabhängigkeit und einem bitteren Indienanschluss, zwischen eventuellem Vollbesitz der Macht und absehbarem Niedergang nicht entscheiden. Schließlich, im Herbst 1947 schlagen die Pahari- und Paschtunenkrieger in Punch los. Sie versuchen die Partie für die muslimische Mehrheitsseite zu entscheiden. Aus der nahegelegenen North-West Frontier Province kommen ihnen ihre Stammes- und Clangenossen, die Khaiberpass-Paschtunen mit Waffen, LKWs und weiteren Kriegern zu Hilfe. Gemeinsam rücken sie Richtung Hochtal und Srinagar vor. Zum Glück für Indien und den zögernden Raja sind die Paschtunen und Militärveteranen nicht nur gute Krieger, sondern seit jeher auch Gesetzlose. Sie plündern und brandschatzen ausgiebig bei den Basaren und Hinduhändlern am Wegrand. Das verschafft dem Herrscher und Indien eine letzte Chance. Auf Druck Indiens entlässt der Raja seinen „Wesir“ und ersetzt ihn durch einen indischen Elitebeamten, einen Vertrauten Nehrus. Sheikh Abdullah wird aus dem Gefängnis entlassen. Sein einstiger Weggenosse, jetzt Leiter der der Muslimliga nahen Muslimkonferenz, bleibt hinter Gittern. Der Raja selbst flieht, er fliegt nach Neu-Delhi. Nehru sagt ihm Militärhilfe allerdings erst zu, nachdem er in letzter Minute einen Anschlussvertrag, ein „Instrument of Accession“ unterschreibt. In größter Eile werden jetzt Sikh-Eliteregimente ins Hochtal geflogen – mit 300 britischen Militärflugzeugen, die zufälligerweise im Umkreis von Neu-Delhi bereits bereitstehen. Sie drängen die Paschtunen-Invasoren über die nächsten Wochen in erbitterten Kämpfen zurück.

Nachdem im UN-Weltsicherheitsrat schließlich ein Waffenstillstand ausgehandelt wird, wird aus der disparaten Front die „Ceasefire Line“. Sie wird seither von einer UN-Mission bewacht. Für den Gebrauch der Diplomaten wird daraus später die „Line of Control“, die neue De-facto-Grenze. Im Südwesten hat Indien durch das Zögern des Maharajas ein rundes Zehntel des Hochtals und von Jammu verloren. Dieses Gebiet bildet seither das von Pakistan besetzte und verwaltete „freie Kaschmir“, Azad Kaschmir. Im Norden sind die Verluste weit größer. Hier fallen die immensen Eiswüsten, weite Strecken der Indus-Gebirgstäler und die alten Handelsstationen und britischen Horchposten, Gilgit und Baltistan, an Pakistan. Teile dieser Grenze, vor allem auf dem Siachengletscher, sind bis heute nicht markiert. Hier liefern sich seither die Truppen beider Staaten auf dem 5.000 Meter hohen Gletscher Gefechte: bei Atemnot, mit kaum einsatzfähigen Helikoptern und in unerbittlicher Kälte.

Das Resultat des Kaschmirbeitritts ist deshalb für Indien höchst zwiespältig. Wesentliche Teile der geostrategisch so wichtigen Grenze zu China sind jetzt an Pakistan gefallen, mitsamt dem Indus, Gilgit, Baltit sowie dem mit Westchina verbindenden Handelsweg. Pakistan wird diese Grenze mit der Volksrepublik China künftig normalisieren, ein äußerst beachtliches Terrain nördlich der höchsten Karakorum Gipfel – K2, Gasherbrum – an China abtreten und sich von der Volksrepublik eine geostrategisch bedeutende Straße entlang des Indus und des Gilgit nach Westchina bauen lassen: den Karakorum Highway über den Khunjerab-Pass. Das alles zementiert eine wichtige strategische, militärische und nukleare Allianz. Mit China im Rücken kann das kleine Pakistan künftig die indische Großmacht beliebig provozieren und international demütigen. Dies, während China selbst Indien entlang des verbliebenen östlichen Grenzverlaufs zurückdrängt, 1962 in einem Grenzkrieg besiegt und der Lächerlichkeit preisgibt. Unter anderem eignet sich China auch noch an der östlichen Karakorum-Grenze den Aksai Chin Sektor, ein Gebiet größer als Belgien, an und baut hier eine bis nach Lhasa reichende strategische Grenzstraße. Indien bemerkt die Usurpation und den Straßenbau erst Monate später.

1948 hat Indien damit rund 40 Prozent der Fläche des Königreichs an Pakistan verloren. Wesentliche Teile der strategischen Grenze kontrolliert jetzt Pakistan, und das neue „Great Game“ wird hier künftig gegenüber der Volksrepublik gespielt, einem übermächtigen Gegner. Wie China frühzeitig bezüglich der Geopolitik Asiens erklärt: „Es können auf einem Berg nicht zwei Tiger wohnen.“ Was die Innenpolitik Kaschmirs betrifft, hat sich Nehru zugleich in eine unlösbare Falle begeben: Um der Militäraktion und dem „Beitritt“ eine demokratische Legitimation zu verschaffen, verspricht er der Welt und der Bevölkerung eine Volksabstimmung. Seiner Freundschaft mit Sheikh Abdullah sicher, glaubt er 1948, dass der Sheikh und die National Conference künftig den demokratischen Prozess bestimmen und eine proindische Volksabstimmung gewinnen werden. Sheikh Abdullah aber sollte sich in den kommenden Jahren als Geißel Nehrus, seiner Tochter Indira und seines Enkels Rajiv erweisen.

 

Die Sackgasse

Noch im Überschwang des Beitritts und der Zuneigung zu Abdullah kommt der Kongress dem Sheikh und seinen Forderungen weit entgegen. Die Dogra-Monarchie wird zügig abgeschafft, der neue Bundesstaat Jammu und Kaschmir erhält dagegen außerordentliche Privilegien: Seine Fahne weht stets neben der Nationalflagge. Fremde können kein Land kaufen – weshalb InderInnen künftig Hausboote kaufen, um bei Srinagar Ferien in den eigenen Räumlichkeiten zu machen. Bundesgesetze gelten hier nur, wenn sie zuvor vom Regionalparlament ebenfalls verabschiedet wurden. Die Urteile des obersten Verfassungsgerichts gelten nicht für den Bundesstaat. Im Gegensatz zu allen anderen großen Fürstentümern sichert sich der Sheikh mit solchen Regelungen einzigartige Sonderrechte. Er macht Jammu und Kaschmir zu einem Bundesstaat sui generis. Damit schafft er sich ein Sprungbett für eventuelle weitere Autonomieforderungen. Es wird Jahre dauern, bis diese Privilegien partiell zurückgenommen werden können.

Das aber produziert ein weiteres Dilemma: In dem Maße, in dem zukünftig der Status Jammu und Kaschmirs dem der übrigen Bundesstaaten wieder angeglichen wird, verengt sich der Spielraum für künftige Autonomiekonzessionen, also Konfliktlösungen. Diese würde einen Präzedenzfall schaffen, auf welchen sich die übrigen Bundesstaaten berufen können. Als größte Hypothek des Zutritts 1948 erweist sich aber das Versprechen einer Volksabstimmung: Nehru hat seinen Freund, diesen charismatischen Geist der idealisierten Kaschmiri-Tradition und Toleranz, aus der Flasche gelassen und wird seiner nie mehr Herr. Sheikh Abdullah, der „Löwe des Hochtals“, wie er inzwischen genannt wird, errichtet vergleichbar dem „Dominant One Party“-System des Kongresses in Restindien seine eigene „National Conference“-Vorherrschaft. Andere Parteien haben in seinem Bundesstaat wenig zu sagen. Er bricht eine vermeintliche sozialistische Revolution vom Zaun, von der vorrangig seine Familie und Parteigefolgschaft profitiert. Vor allem geht er in den 1950er Jahren eigenständig auf Auslandsreisen, auf denen er mitten im Kalten Krieg und unter Bezugnahme auf seine geostrategische Region davon schwärmt, welche Friedens- und Neutralitätsrolle ein eigenständiges Kaschmir künftig einnehmen könne.

Abdullah fabuliert vom „Wegkreuz der Religionen und Kulturen“, welches im „Kaschmiriat“ oder dem „Kaschmirwesen“ versinnbildlicht sei. Er verklärt Kaschmir zur Schweiz Südasiens. Einem solchen Mann wollen Kongress und Nehru keine Volksabstimmung über die zukünftige Zugehörigkeit Kaschmirs anvertrauen, zu unsicher wäre der Abstimmungsausgang. Über die kommenden Jahrzehnte, von 1952 bis 1991, versuchen der Kongress und drei Generationen der Nehru-Dynastie die Kontrolle über die Innenpolitik und Sheikh Abdullah zurückzugewinnen, mit mäßigem Erfolg. In einem Wechselbad der Taktiken und Entscheidungen wird der Sheikh zumeist mit Hilfe der sogenannten „President‘s Rule“ seines Amtes enthoben. Er wird unter Hausarrest gestellt, nach Verhandlungen frei gelassen, worauf er bald wieder die Volksabstimmung oder Autonomiezugeständnisse fordert – und hinter Gittern verschwindet. Zugleich versucht Delhi, den Jammu und Kaschmir-Kongress, auch über die Zwei-Drittel-Hindumehrheit im Gebietsteil Jammu, ins Spiel zu bringen. Bis zum Tod des „Löwen“ misslingen aber alle Versuche, Sheikh Abdullah zu diskreditieren oder die National Conference zu schwächen.

Sein Sohn Farooq führt die Partei zunächst erfolgreich weiter. Bis Ende der 1980er Jahre tritt damit die Innenpolitik auf der Stelle. Es gibt keine Volksabstimmung. Stattdessen behauptet Delhi, die regelmäßig abgehaltenen Provinz- und Nationalwahlen und deren Wahlbeteiligung bildeten das Äquivalent einer solchen proindischen Abstimmung. Hinzu käme, dass Pakistan 40 Prozent des Gebiets besetzt halte, ein Gebiet, in dem Pakistan eine freie Volksabstimmung nicht zulasse oder nicht garantieren könne. Auch an den vielfachen Wahlmanipulationen, Stimmen- und Abgeordnetenkäufen von allen Seiten ändert sich in den kommenden drei Jahrzehnten wenig. Der Protest der Kaschmiri für mehr Autonomie oder für Unabhängigkeit bleibt noch friedlich, allerdings nimmt er zunehmend außerparlamentarische Formen an.

An dem Patt ändert auch die Tatsache nichts, das während dieser fast vier Jahrzehnte zwei Kriege zwischen Pakistan und Indien geführt werden: Direkt derjenige von 1965, lediglich indirekt der Bangladesch-Krieg von 1971. Sie ändern nichts an der fortdauernd akzeptierten „Line of Control“. 1965 überredet der pakistanische Außenminister Zulfikar („Das Schwert Mohammeds“) Ali Bhutto den alternden Militärdiktator Ayub Khan, im Hochtal von Kaschmir einen Aufstand anzuzetteln. Er sollte den Vorwand für einen Befreiungskrieg ebenso wie einen Panzer-Frontalangriff auf Indien, Richtung Ostpunjab und Neu-Delhi, liefern. Ein klassischer Erstschlag, denn 1965 konnte Pakistan noch einen Krieg gegen den übermächtigen Gegner gewinnen. Aber der Angriffskrieg wird zum Desaster. Die indischen Panzer rollen in der größten Panzerschlacht seit Kursk 1943 über die Grenze in den Westpunjab, kurz vor Lahore. Im Hochtal bricht jedoch kein Aufstand aus. Indischer Langmut und eine innerindische Nachfolgekrise retten Pakistan. Nehru ist 1964 gestorben, sein Übergangsnachfolger Bahadur Shastri stirbt während der sowjetisch vermittelten Friedensverhandlungen von Taschkent.

Beim Bangladesch-Krieg 1971 während des indischen Einmarsches in Ostpakistan spielten der Westen und Kaschmir eine Nebenrolle. Aber der für Pakistan katastrophale Kriegsausgang, der Verlust von Ostpakistan und der halben Armee sowie die „Geburt“ Bangladeschs, verändern bis heute die Kräftekonstellation zwischen dem überlebenden Rumpfpakistan und dem bei den Verhandlungen in Shimla triumphierenden indischen Kongress. Der zum Premier Restpakistans aufgestiegene Bhutto muss in Shimla alles unterschreiben, was ihm Indira Gandhi diktiert – vor allem einen neuen „Bilateralismus“. Seither ist Kaschmir ein Problem, das nur zwischen Indien und Pakistan zu verhandeln ist, unter Ausschluss jedweder internationaler oder UN-Sicherheitsratsvermittlung.

Das Trauma 1971 setzt auf pakistanischer Seite, in erster Linie beim Militär, eine Suche nach neuen Bündnispartnern und Waffen frei. Zunächst Bhutto, dann sein Nachfolger, der Putschist und Henker Bhuttos Zia-ul-Haq, suchen die finanzielle Unterstützung Saudi-Arabiens und importieren dessen sunnitischen Fundamentalismus, den Wahhabismus. Sie vertiefen die China-Allianz und fädeln für Nixon/Kissinger die Peking-Washington-Liaison ein. Vor allem aber treiben sie heimlich durch Einkauf, Spionage und Schmuggel eine eigene Atomrüstung voran. Eine Suche, die seit 1985 von Erfolg gekrönt ist, dank der logistischen Zusammenarbeit mit China und dank amerikanischer Militärhilfe, die unrechtmäßig unter den Augen der CIA dem antisowjetischen Dschihad (1980-87) entzogen wird. Die Konsequenzen des Sezessionskriegs 1971 stellen damit auch die Konfrontation und die Verhandlungen um Kaschmir auf eine vollständig neue, eine noch schwierigere Grundlage. Vor allem die Verhandlungen um Kaschmir geraten jetzt endgültig in eine Sackgasse: Immer wieder erneuert, geraten sie gleichwohl zum leeren Ritual.

Seit den 1950er Jahren lagen und liegen drei Lösungsansätze auf dem Tisch: Erstens das Plebiszit, zweitens die Idee der vier regionalen Plebiszite, drittens die Anerkennung der Line of Control als legitime, internationale Grenze. Bis 1971 hatten sich diese Verhandlungswege bereits erschöpft, seither, in einer von Bilateralismus, Terror und Nuklearrüstung geprägten Konfrontation, sind sie sinnlos geworden.

Erstens: Das Plebiszit wäre nur sinnvoll, wenn alle BewohnerInnen zwischen „Unabhängigkeit“, „zu Pakistan“ oder „zu Indien“ wählen könnten. Die Unabhängigkeit Kaschmirs wird von Indien und Pakistan kategorisch ausgeschlossen. Eine „Indien oder Pakistan“-Wahl wird von Indien blockiert – mit dem Hinweis, das besetzte pakistanische Azad Kashmir könne nicht frei wählen, während die seit 1953 im Hochtal abgehaltene Parlamentswahlen Plebiszit genug seien. Pakistan hingegen ließe eine „Indien oder Pakistan“-Entscheidung eventuell zu, je nach politischer Wetterlage – mit Ausnahme aber der strategischen Gilgit-Baltit-Karakorum (Highway) Zone, die seit Jahrzehnten als fester Bestandteil Pakistans verwaltet wird.

Zweitens: Angesichts dieser Sackgasse hatte der kanadische UN-Vermittler Owen Dixon bereits in den 1950er Jahren vier regionale Plebiszite vorgeschlagen, die der ethnischen und politischen Vielfalt Rechnung trügen: im zu 60 Prozent buddhistischen Ladakh, im zu zwei Drittel hinduistischen Jammu, im nahezu vollständig islamischen Azad Kaschmir und Gilgit/Baltit Territorium und im zu 90 Prozent muslimischen Hochtal. Da Jammu und Ladakh für Indien sowie der seit 1948 okkupierte Westen für Pakistan votiert hätten, hätte das Vierer-Plebiszit das Problem vorsortiert und auf das schwer berechenbare Hochtal begrenzt. Allerdings mit der gleichen Blockade wie bei Option 1: Indien hätte weder ein unabhängiges noch ein pakistanisches Hochtal akzeptiert; Pakistan kein indisches.

Drittens: Es bleibt die Option des „aufgeklärten Eigeninteresses“, die Anerkennung der seit 1948 bestehenden, weder 1965 noch 1971 veränderten Line of Control, ihre Anerkennung als nicht nur de facto, sondern rechtlich gültige internationale Grenze. Eine solche pragmatische Legitimierung des Status quo scheitert bislang vorrangig am erbitterten Widerspruch Indiens. Indien würde nie den Verlust von mehr als 40 Prozent des ehemaligen Fürstentums einwilligen, inklusive der strategisch bedeutsamen westlichen Grenze zu China und darüber hinaus der unwiderruflichen Anerkennung von Pakistans erheblichen Gebietsabtretungen an die Volksrepublik.

In den Jahrzehnten seit 1971 (Bilateralismus) und 1985 (Pakistans Nuklearbewaffnung) haben sich die Blockade und die Konfrontationshaltung verstärkt. Für den mit oder ohne parlamentarische Fassade fortdauernden pakistanischen Militärstaat bleibt die Forderung nach der Befreiung der Kaschmir-Muslime unverzichtbar. Die indische Annexion des Hochtals demonstriert fortdauernd die existenzielle Bedrohung des Kunststaats durch den Hindu-Moloch und legitimiert damit die Kosten und die Vorherrschaftsrolle des Militärs für den pakistanischen Staat. Für die seit 1999 auch hindunationalistischen Großmachtambitionen Indiens wiederum gilt: Nach außen wie nach innen gelten begrenzte Konzessionen an kaschmirische Autonomiebestrebungen als Zeichen der Schwäche, gegenüber Pakistan und China ebenso wie gegenüber den Oppositionsparteien und den Hindu-Wählern – vor allem auch im Gebietsteil Jammu. In erster Linie gelten solche Sonderregelungen allerdings als Präzedenzfall, der die Einheit Indiens bedroht.

Hinzu kommt, dass der Weg der kleinen Konzessionen diskreditiert ist: 1975 war unter großen Pomp ein „Kaschmir Accord“ zwischen Indira Gandhi und Sheikh Abdullah ausgehandelt worden. Er hätte trotz Einbußen Jammu und Kaschmir eine politische, legislative und symbolische Sonderstellung (gemäß Artikel 370 der indischen Verfassung) gegenüber anderen indischen Regionalstaaten bewahrt. Jedoch um einen Preis: „Das (indische) Unionsparlament (Neu-Delhi) verfügt weiter über das Recht, Gesetze zu erlassen, die Handlungen unterbinden… die die Souveränität und territoriale Integrität in Frage stellen oder die Abspaltung eines Gebietsteils von der Union ermöglichen“. Dieser Accord ermöglicht es Sheikh Abdullah, wieder in das Chief Minister Amt zurückzukehren und bis zu seinem Tod 1982 in Jammu und Kaschmir eine Autokratie zu errichten. 1977 kommt er im ersten als „free & fair“ bezeichneten Wahlkampfs des Bundesstaats an die Macht.

Seine Zeit als Chief Minister benutzt er aber dazu, um zu zeigen, dass er nicht dem Accord, sondern nur Abdullah allein verpflichtet ist: Er fabuliert erneut über Zusammenschlüsse wie Azad Kaschmir mit Kaschmir. Er errichtet eine de facto-Autokratie (alle Minister müssen ihm einen persönlichen Treueeid schwören). Er bringt den Kongress, die Hindumehrheit in Jammu und die Buddhisten in Ladakh gegen sich auf. Der Tod des „Löwen“ 1982 ist für den Kongress unter Indira Gandhi eine Erlösung. Seitdem hält Neu-Delhi nichts mehr von auch nur begrenzten Autonomieexperimenten. Auch ein begrenzter Verhandlungsweg, bilateral zwischen Indien und Pakistan oder zwischen Neu-Delhi und akzeptablen Kaschmir-Repräsentanten, hat sich damit bis 1982 als Sackgasse erwiesen. Von hier an radikalisiert sich der Konflikt zur Tragödie.

 

Die Tragödie

Zum Zeitpunkt des Todes von Sheikh Abdullah haben junge Kaschmiris der National Conference den Rücken gekehrt. Sie gilt ihnen als obsolet, korrupt und opportunistisch. Auch Abdullahs Sohn Farooq kann die NC nicht rehabilitieren. Bereits 1977 haben vom Kaschmir Accord enttäuschte Studenten im Exil die Jammu Kaschmir Liberation Front (JKLF) gegründet. Sie wird in den 1980er Jahren zum Träger und Experimentierfeld einer nicht nur außerparlamentarischen, sondern bald militärischen, terroristischen Opposition. Vor allem aber die pakistanische Diktatur Zia-ul-Haqs, der übermächtige Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) und die politische Stütze Zias, die fundamentalistische Jamaat-e-Islami Partei, greifen jetzt in den anfänglich innerkaschmirischen Widerstand ein. Die entscheidende Zäsur ist das Ende des antisowjetischen Dschihads 1987 in Afghanistan, also der Rückzug der Sowjettruppen und die Demobilisierung der „fundamentalistischen Internationale“, also etwa der saudi-arabischen, libyschen oder tschetschenischen Mudschaheddin. Diese Krieger stellen für das nach dem Flugzeugabsturz Zias (1988) wieder in den formalen Zivilmodus zurückkehrende Pakistan ein innenpolitisches Problem dar.

Jamaat-e-Islami und ISI finden eine Lösung: die Krieger werden nicht mehr nach Westen über die Khaibergrenze, sondern nunmehr nach Osten über die LoC nach Kaschmir geschickt. Von einem Dutzend seit längerem in Pakistan und Azad Kaschmir operierenden Terrorgruppen weitergereicht, ausgebildet und mit Waffen versehen, werden sie ins Hochtal geschickt. Entsprechend radikalisiert sich nun der Widerstand gegen die indische Besatzungsmacht, die Regionalparteien und die politischen „Verräter“. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob ein eigener, spezifisch kaschmirischer militanter Widerstand politisch rationaler, weniger brutal, weniger tödlich gewesen wäre. Der pakistanische Faktor verändert alles. Den pakistanischen oder internationalen Kombattanten geht es um das Große und Ganze. Wie einer der Anführer, Azam Inquilabi, erklärt: „Wir haben gesehen, wie das kleine Land Afghanistan gegen eine Supermacht kämpfte, sie zum Rückzug zwang, ihren Niedergang und ihre Auflösung auslöste. Wir sahen, wie am Ende fünf neue islamische Staaten entstanden. Weshalb sollten wir das gleiche nicht in Kaschmir mit Indien versuchen?“ (Azam Inquilabi in Schofield 2002: 126).

Diese Außenseiter wollen, wie auch bei ihren Angriffen auf das indische Parlament, das Taj Mahal Hotel in Mumbai und andere spektakuläre Ziele, die Panik der Hindus, die unüberbrückbare Kluft zwischen Hindus und Muslimen, die kollektive Vergeltung seitens der indischen Sicherheitskräfte, am Ende den Glaubens- und Bürgerkrieg erreichen. Sie kennen und befürworten den Preis an Menschenleben, den diese Repression fordert. Denn vor der Haustür Pakistans im (Ost-) Punjab hat die Regierung Indira Gandhi in den 1980er Jahren die Sezessionsbewegung der Sikhs niedergeschlagen, um den Preis von mindestens 60.000 toten ZivilistInnen und der Zerstörung des Goldenen Tempels. ISI und Jamaat, bald flankiert von zwei weiteren fundamentalistischen Parteien, und die von ihnen geförderten Terrorgruppen tragen im Hochtal ebenfalls ihre wechselseitigen Rivalitäten aus. Sie bedrohen und töten jene Kaschmiris, JournalistInnen, PolitikerInnen, Intellektuelle, die ihre Methoden – Geiselnahme, Autobomben, Selbstmordattentate – oder ihre pro-pakistanische Haltung und Finanzierung kritisieren. Der neue seit 1987 einsetzende „Dreißigjährige Krieg“ kann hier nicht detailliert beschrieben werden, lediglich einige seiner Leitlinien.

Die erste, genuin kaschmirische Aufstandsorganisation die JKLF ist sehr bald fraktioniert und diskreditiert. Die von Pakistan begründeten Gruppen dominieren. Die Proliferation dieser Terrorgruppen und ihre brutale Konkurrenz steigern das Chaos und die Repression. 1993 entsteht eine „All Parties Hurriyat Conference“, eine Dachorganisation von 26 Gruppierungen unterschiedlichster Orientierung. Terrorgruppen existieren Seite an Seite mit kaschmirischen Kultur-, Partei- oder vorrangig Propagandaorganisationen. Zweimal gespalten und wieder vereinigt, gilt die von Pakistan und ISI geförderte Dachorganisation als reine „Adressenkartei“. Sie operiert aber auch als halbkonspirativer Verkehrs-, Reise- und Kommunikationsverband zwischen den beiden Kaschmirs, zwischen Indien, Pakistan, den Golfstaaten und London – vor allem für die beteiligten Familien. Für Indien ist die „Conference“ kein Ansprechpartner. Das südasiatische Land hat aber auch keine anderen gefunden – oder gar gesucht.

Vielmehr verfolgt Neu-Delhi seit fast 30 Jahren eine Komplementärstrategie der formalen „demokratischen“ Repräsentation, ergänzt durch Repression. Nach einem holprigen Start – von 1990 bis 1996 herrscht der Ausnahmezustand („President’s Rule“) – stützt sich die regionale Politik inzwischen auf ein Vierparteiensystem: Die National Conference wird derweil dynastisch vom Enkel Abdullahs, von Omar geleitet; Vater Farooq wurde in die höheren Kreise der Neu-Delhi-Politik und Kabinette kooptiert. Daneben steht der regionale Kongress, eine starke hindu-nationale, auf die Jammu-Hindus gestützte BJP und eine Abspaltung der indischen Kongress-Partei, die PDP. Auch die PDP wird von einer Dynastie geführt, aktuell von Mehbooba Mufti, der Tochter des Parteigründers. Seit 1947 haben immerhin (ohne Constituent Assembly) elf Regionalwahlen stattgefunden. Seit 2014 tagt die 11. Assembly mit einer PDP/BJP Regierung. Diese formale Kontinuität (elf NC Regierungen in 65 Jahren) und Stabilität (fünf Familien stellen 16 der 19 Chief Minister) verdeckt eine inzwischen unüberwindbare Polarisierung zwischen Hindus und MuslimInnen. Vor allem aber eine unüberwindbare Entfremdung zwischen allen MuslimInnen, insbesondere der Jugend, und dem indischen Staat.

Auf Ladenschließungen, Straßenblockaden, gewalttätige Proteste sowie besonders auf Terroranschläge antwortet Neu-Delhi mit weiterer Repression. Dabei kann die neue wachsend hindunationale Großmacht auf die unerschöpflichen Ressourcen des weltweit drittgrößten Armee- und Sicherheitsapparates zurückgreifen. Zwischen 200.000 und 300.000 Soldaten und Sicherheitstruppen sind im Hochtal, entlang der Line of Control und der strategischen Jammu-Hochtal-Kargil-Leh-Straße seit Jahrzehnten stationiert. Genaue Angaben fehlen. Über die Kosten, vor allen Dingen an Menschenleben, herrscht Ungewissheit. Die Opferangaben schwanken je nach Partei zwischen 30.000 und 60.000 Toten. Sicher ist, dass Indien auch künftig diesen militärischen und moralischen Preis entrichten wird.

Die Zahl, die Identität und die Ziele der Aufstandsbewegungen sind zunehmend unüberschaubar geworden. Dieser Prozess des unkontrollierbaren „Fission and Fusion“ ebenso wie das „Infighting“ haben zu einem Schattenkrieg im Schattenkrieg geführt. Einzelne Fraktionen arbeiten für den indischen Geheimdienst (RAW) und Sicherheitsapparat: als Vigilantentruppen, „Fallensteller“, Informanten. Die Grenzen zwischen Irredentismus, Salafismus, Kaschmiri-Patriotismus, Mafiatum und bezahltem Verrat sind fließend. Die große Politik, vorrangig der BJP-Regierungen, hat sich von dem unlösbaren Problem abgewendet und verhandelt, wenn überhaupt, über die einfacheren Fragen der allgemeinen Verbesserungen etwas der Verkehrs-, Wirtschaft- und Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten. Aber auch Initiativen im „erleichterten Grenzverkehr“ wurden und werden immer wieder durch spektakuläre Terroranschläge sabotiert. Sie demonstrieren der indischen Seite stets auf das Neue, dass sie zwar formal mit einer demokratisch gewählten Regierung verhandelt, aber dass das pakistanische Militär, ISI, Jamaat-e-Islami und die Terrorgruppen jedoch außerhalb politischer Kontrolle stehen.

So zettelte das Militär unter dem späteren Militärdiktator Pervez Musharraf 1999 einen vierten Krieg um Kaschmir, den Kargil-Krieg an, während der Regierungschef Nawaz Sharif in erfolgversprechenden Verhandlungen mit der BJP-Regierung stand. Seitdem ist das Interesse der indischen Seite an einer Verhandlungsstrategie selbst des Ausklammerns (des Kaschmirstatus) und des Minimalismus (an Grenzerleichterungen) geschwunden. Der Status quo, die fortdauernde Tragödie bildet damit nach sieben Jahrzehnten die goldene Mitte, in der die innenpolitischen und geostrategischen Interessen der beiden Kontrahenten konvergieren. Er verschafft der indischen Großmacht innenpolitische Ruhe – keine Autonomiepräzedenz – und schützt ihre geostrategischen Ambitionen. Dem pakistanischen Militär dient der Konflikt als Nachweis für die Unverzichtbarkeit seiner Schutzherrschaft und Vorrangstellung. Zudem kann das Militär nur hier mit minimalem Einsatz und Risiko den übermächtigen Gegner nach Belieben düpieren.

 

Jakob Rösel ist Autor des Buches “Pakistan: Kunststaat, Militärstaat und Krisenstaat” (LIT Verlag, Berlin 2011).

 

Literatur:

Alistair Lamb (1991): Kashmir – A Disputed Legacy, 1846-1990. Hertingfordbury

Victoria Schofield (2002): Kashmir in Conflict - India, Pakistan and the Unending War. London

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