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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 348 | Gesellschaftskritik im Spielfilm Der chilenische Spielfilm ¡NO! und seine historischen Hintergründe

Der chilenische Spielfilm ¡NO! und seine historischen Hintergründe

¡NO! Chile 2012, 113 Minuten, Regie: Pablo Larraín; Buch: Pedro Peirano. Mit Gael Garcia Bernal, Alfredo Castro, Luis Gnecco, Antonia Zegers. Auf DVD erhältlich. Dort als Bonus: Die TV-Spots der Originalkampagne.

Der Militärputsch in Chile vom 11. September 1973 hat einer ganzen Generation internationalistischer Linker die Hoffnung genommen, ein friedlicher Übergang zum Sozialismus sei mit Wahlsiegen zu erreichen. Der große, ermutigende Aufbruch mit Präsident Salvador Allende wurde brutal beendet: Schluss mit dem Ausbau der Sozialleistungen, dem kostenfreien halben Liter Milch täglich für alle Schulkinder, der Vergesellschaftung der Kupferminen. Der Staat war nun wieder nicht mehr für die Daseinsfürsorge von Bedürftigen da, sondern für die Garantierung optimaler Akkumulationsmöglichkeiten für das Kapital. Der Putschgeneral Augusto Pinochet und seine Militärjunta waren lange der Inbegriff für eine Diktatur in peripheren Staaten.

Radikalere Linke in Chile hatten sich auf den Militärputsch und den Widerstand im Untergrund vorbereitet – namentlich die Bewegung der revolutionären Linken, MIR. Aber auch die Kommunistische, die Sozialistische Partei, das demokratische Spektrum bis hin zu den ChristdemokratInnen wurde verfolgt, verboten, verhaftet. Eine Million ChilenInnen gehen ins Exil. 1989, nach 16 Jahren brutaler Unterdrückung, war auch der mit der Diktatur unzufriedene große Teil der Bevölkerung Chiles  vor allem eines – verängstigt. So scheiterten aus dem Exil klandestin zurückgekehrte Militante des MIR 1981 mit dem Versuch, in den Wäldern um Neltume eine Landguerrilla aufzubauen. In den Poblaciónes, den Armensiedlungen der großen Städte, kam es 1987 öfter zu militanten Demonstrationen, aber der Funke sprang nicht über.

Aus dem Ausland kam viel Kritik an der Diktatur, dem chilenischen Außenhandel machte die nahezu weltweite politische Isolation zunehmend zu schaffen. Um sein Regime international zu legitimieren, rief Diktator Pinochet eine Volksabstimmung über die Fortführung seiner Präsidentschaft aus. Nach 16 Jahren brutaler Repression gegen jede Opposition links der Junta, der Zerschlagung der Gewerkschaften und einem massiven Abbau des Arbeitsrechtes glaubte Pinochet, eine Volksabstimmung ließe sich sicher gewinnen. Denn nicht nur der rabiat nach den Vorgaben der neoliberalen „Chicago Boys“ deregulierte Staat, auch die bedingungslose Unterordnung der Wirtschaft an die Anforderungen aus den metropolitanen Staaten ließen die rabiate Marktwirtschaft alternativlos erscheinen. Alle Prognosen sagten den Sieg Pinochets voraus.

Hier setzt der Spielfilm „¡NO!“ ein: Der erfolgreiche junge Werbefachmann René Saavedra, selbst Kind von Exilchilenen, kreiert völlig marktgläubig eine Kampagne für die chilenische Cola „Free!“. Bei der Präsentation erklärt er bedeutungsvoll: „Chile denkt an seine Zukunft! Dieses Produkt passt in den sozialen Kontext!“ Als er von einem Freund seiner exilierten Eltern gebeten wird, die Kampagne für das ¡NO! gegen Pinochet zu leiten, sagt er nach anfänglichem Zögern zu. Die Geldmittel sind knapp, aber Viele wollen sich beteiligen.

Saavedra entwirft eine knallig-bunte Kampagne, in der das ¡NO! Als Produkt beworben wird. Seine Vorbehalte gegen die politische Opposition scheinen sich zu bestätigen, als er sein Konzept für die ¡NO!-Kampagne vorstellt. Hauptsächlich sitzen ihm sich wichtig findende ältere Mittelschichtsmänner gegenüber. Gegen die Verängstigung und Entrechtung will er aber anders als sie keine Aufklärung über die Gräuel der Diktatur und die soziale Polarisierung setzen, sondern ganz positiv „die Freude“ mit dem Nein-Stimmen verbinden: „Chile, die Freude kommt jetzt!“ ist der zentrale Slogan von Jingle und Spots der Kampagne.

Die ideologische Wirkungsmächtigkeit der Versprechen des Kapitalismus wird bitter deutlich. Der Werbefachmann der ¡Sí!-Kampagne spricht es bei der Präsentation seines Konzeptes vor einer Runde hochrangiger Militärs und Berater aus: Es geht darum, die Erfolge der Diktatur zu vermitteln: Jeder kann reich werden. Nicht alle, aber jeder. Pech für die Diktatur nur, dass dieses Glücksversprechen der Bereicherungskonkurrenz von der ¡NO!-Kampagne überzeugender, witziger präsentiert wird. Das Marketing der Opposition ist besser, erfolgreicher. Alle Kulturschaffenden wollen beim ¡NO! mitwirken und dabei sein bei den Gewinnern. Dabei wird das ¡NO!-Kampagnenbüro ständigen überwacht von der Geheimpolizei des Regimes, Saavedra wird am Telefon angedroht, seinem Sohn etwas anzutun, auf sein Haus „marxistischer Vaterlandsverkäufer“ geschmiert.

Die ¡NO!-Kampagne wird trotz des unmöglichen Sendeplatzes – nur 15 Minuten mitten in der Nacht bekommt jede der beiden gegnerischen Kampagnen, während das Regime die ganzen restlichen gleichgeschalteten Medien zur Verfügung hat – zusammen mit den im Film nicht gezeigten sozialen Protesten erfolgreich: 56 Prozent der Abstimmungsberechtigten stimmen am 5. Oktober 1988 mit ¡NO! - gegen eine weitere „Präsidentschaft“ von Diktator Pinochet. Die Militärjunta erkennt nach Zögern das Ergebnis an, ordnet aber erst den Übergang. Am 14. Oktober 1989 gewinnt das ¡NO!-Lager die ersten freien Wahlen seit 1973.

Die Armee unterdrückt das Ergebnis nicht, Chile wird formaldemokratisch. Ein Bruch mit der Diktatur bleibt aber aus. Pinochet bleibt bis 1998 Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Senator auf Lebenszeit. Das deregulierte Wirtschaftssystem bleibt ebenso unangetastet wie die Privatisierung staatlicher Einrichtungen und die Ökonomisierung der Daseinsfürsorge - trotz christdemokratischer und sozialistischer PräsidentInnen, trotz vieler Proteste. Immer noch muss Schulgeld gezahlt werden, gibt es keinen freien Zugang zu Bildung.

Bis auf die politische Sphäre gelten bis heute in Chile weiter die Paradigmen der Diktatur. Symbolisch geht Saavedra nach der gewonnenen Volksabstimmung mit seinem kleinen Sohn von der Siegesfeier der ¡NO!-Kampagne alleine nach Hause. So drückt das Filmende die Ambivalenz aus, dass sich mit dem Sieg des ¡NO! etwas ändert. Aber nicht alles.

Gaston Kirsche



348 | Gesellschaftskritik im Spielfilm
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