»nah & fern«
Noch in der alten DDR entstand 1989 auf dem Leipziger Kirchentag die Zeitschrift nah & fern. Heute wird sie vom Loeper Literaturverlag in Karlsruhe dreimal jährlich herausgegeben. In der aktuellen Ausgabe mit dem Themenschwerpunkt »Identitäten« wird im Artikel »Eine allzu deutsche Geschichte?« ein Fazit der ersten beiden Jahrzehnte der deutschen Einheit gezogen. Im Vordergrund steht dabei die Veränderung der Einstellung zu jenen Menschen, die oder deren Eltern von fern hierher gekommen sind. Die Politikwissenschaftlerin Nevim Çil schreibt über die Perspektiven türkischstämmiger Jugendlicher auf die Wiedervereinigung. Diese führte zumindest teilweise zu einem größeren gesellschaftlichen Integrationsprozess zwischen West und Ost – aber an den türkischen ZuwandererInnen ging dieser Prozess vorbei.
Am Grundlegendsten wird die Kategorie »Identitäten« im Editorial und im Titelbild hinterfragt: Ist das Gleichsein, das dem idem (lat. = derselbe) anhaftet, in der Gesellschaft überhaupt wünschenswert und möglich, oder wird MigrantInnen eine Unmöglichkeit abverlangt? Auf dem Titelbild zeigt das Magazin, das in seiner Bebilderung ohnehin sehenswert ist, die Schatten verschiedener Fahnen auf dem Pflaster. Hier ragen sie nach unten und sind, als Schatten, plötzlich alle gleich – idem und doch in ihrer Wirkung dekonstruiert.
Im Heft wird dann gefragt, wie sich Identitäten in der Postmoderne wandeln und multipler, hybrider werden. Mely Kiyak bemängelt, dass von MigrantInnen die Zustimmung zur deutschen Gesellschaft verlangt wird, deren autochthone Mitglieder sich dadurch auszeichnen, dass sie von früh bis spät ihre Unzufriedenheit artikulieren. Die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan schreibt, dass die Zuschreibung zu einer Nation in der postmodernen Konstellation schwieriger geworden sei, und die Einforderung nach Teilhabe in diesem Kontext geradezu aussichtslos wird und deshalb teilweise aggressiv einfordert wird.
Christian Horn zeigt die real existierenden Mischformen von Identität im heutigen Deutschland auf. Er folgt der Einsicht, dass das Konzept der Identität mit der Genese der bürgerlichen Gesellschaft und dem eigenverantwortlichen Subjekt entstanden ist. Der Verweis auf die Gegnerschaft von Individualität und Identität erfolgt jedoch kaum. Denn auch als hybride Identität betont diese im Vergleich zur Individualität immer das Feste und Gleiche, während das Individuelle die Einmaligkeit betont. Aber mit seinem Blick auf die Migrationsgesellschaft wirft die 44. Ausgabe der »nah & fern« auch einen spannenden Blick auf »Identitäten«.
Winfried Rust