Joris Ivens: Weltenfilmer. Filme von 1912 bis 1988
Rezension: Weltenfilmer. Filme von 1912 bis 1988
Der britische marxistische Historiker Eric Hobsbawm hat das 20. Jahrhundert in einem berühmt gewordenen Buch als »Zeitalter der Extreme« bezeichnet. Wer sich dieses Jahrhundert mittels Dokumentarfilmen erschließen möchte, ist nun mit einer im absolutMedien-Verlag erschienen DVD-Box bestens bedient. Die hier versammelten zwanzig Filme stammen allesamt vom holländischen Dokumentarfilmregisseur Joris Ivens (1898-1989). Er kam über das Filmen zur Politik und war ähnlich gesinnt wie Hobsbawm. Die fünf DVDs enthalten sechzig Jahre feinstes Dokumentar-Kino aus aller Welt und ist allen zu empfehlen, die sich ein Bild von den Möglichkeiten des Dokumentarfilms im Zeitalter der Extreme machen wollen.
Ivens zeigte sich vor allem von Bildern der Naturbeherrschung begeistert. Die Konstruktion einer Brücke filmt er 1928 voller Aufmerksamkeit mit einer Handkamera ab. Doch bald weitet sich sein Blick. Nicht die fertige Konstruktion interessiert ihn, sondern die sozialen Beziehungen, die hinter dem Arbeitsprodukt stehen: Die Kooperation zwischen den Arbeitenden und der Antagonismus in der Gesamtgesellschaft. Es gibt Ausführende und Führende, es gibt planvolle Produktionsabläufe auf der einen Seite und anarchische Marktverhältnisse auf der anderen. Ivens ist ein marxistischer Filmdokumentarist, von Walter Benjamin verehrt, der vom genauen Blick auf die Wirklichkeit geleitet ist und – den klassischen Dokumentarfilmrahmen sprengend – zur Wahrheit übergehen will. Damit folgt er Sergej Eisensteins Aussage » In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.« Deshalb filmt Ivens auch nicht nur das ab, was ist, sondern auch das, was sein soll. Viele Szenen aus seinen Dokumentarfilmen sind gestellt und eingeprobt.
»Neue Erde« von 1933 veranschaulicht am besten, welchem Begriff von Dokumentarfilm Ivens folgte. Er zeigt zu Beginn die enorme menschliche Kraftanstrengung, die die Trockenlegung eines Teils des niederländischen Ijsselmeeres ermöglicht. Die Aufnahmen bannen menschliche Arbeits- und Planungsfähigkeit in atemberaubende Bilder, sie dokumentieren Kraftleistungen und an Hybris grenzenden Behauptungswillen. Doch plötzlich erfolgt ein jäher Bruch, und Ivens klagt am Ende des Filmes die kapitalistische Gesellschaft an, die Krisenhaftigkeit eines Systems, das immer produktiver wird, jedoch aufgrund der falschen Formen, des Marktes und des Geldsystems zu Hunger und Verarmung führt. AgitProp und Dokumentarfilm verfließen zu einem.
1932 drehte er in der Sowjetunion das »Heldenlied« vom Aufbau des Stahlwerks Magnitogorsk. Auf die Formel »Terror und Traum« brachte einst der Historiker Karl Schlögel die Stalinzeit. Wer wissen will, welcher Art der Traum war und eine Ahnung entwickeln will für die enorme Industrialisierungsleistung und Arbeitswut, die über die Interessen der Menschen und über die Naturverhältnisse hinausgingen, sollte sich diesen Film anschauen. Weltweit bekannt wurde Ivens Film »Die spanische Erde« von 1936, für den Ernest Hemingway den Kommentar schrieb. Es ist ein klassischer Volksfront-Film über den Spanischen Bürgerkrieg. Die Faschisten werden nur als »Banditen« oder »Rebellen« bezeichnet. Vom sozialrevolutionären Prozess der Kollektivierung erfährt man ebenso wenig wie von der umkämpften Frage, ob Milizen oder eine zentralisierte Armee Francos Angriffe besser parieren können. Der Film sollte vor allem dem Kampf des spanischen Volkes gegen die Mörder der Legion Condor Popularität verschaffen. Ivens Filme standen ganz im Zeichen des Antifaschismus, später des antiimperialistischen Kampfes. Indonesiens Ringen um Unabhängigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird in dem 1946 gedrehten Film »Indonesia Calling« eindrucksvoll als gelungene Solidarität der multinationalen Hafenarbeiter und Matrosen erzählt. Australische, indonesische und indische Seeleute bestreikten niederländische Schiffe, die zur Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung militärische Güter anliefern. Auch den Befreiungskampf des Vietcong in Vietnam gegen den US-amerikanischen Krieg unterstützte Ivens filmisch.
Nach etlichen Enttäuschungen über die Sowjetunion wendete sich sein Sehnsuchtsblick nach China. Er glaubte, in der Kulturrevolution ein neues, wirklich durch die arbeitende Bevölkerung getragenes Sozialismusmodell gefunden zu haben. Zwei der insgesamt zwölf Dokumentarfilme aus dem nachrevolutionären China sind auf den DVDs enthalten. Äußerst aufschlussreich ist der Kurzfilm »Wie Yü Gung Berge versetzt: Eine Geschichte über einen Fußball« von 1976. Es geht um die neue Form der Kritik und Selbstkritik im Schulsystem. Man wird Zeuge einer unendlich langen Debatte über einen Schüler, der trotz des Verbots der Lehrerin einen Ball wegkickte. Beide, Schüler wie Lehrerin, leisten nach ermüdenden Redeprozeduren Selbstkritik, der Geständniszwang präsentiert sich schein-antiautoritär, am Ende setzt sich ein irrational-totalitärer Begriff von Disziplin durch. Der Film wäre ein irritierendes Beispiel einer Täuschung, der der engagierte Filmemacher Ivens erlegen wäre, hätte er nicht gegen Ende des Filmes das breite Gähnen eines Mitschülers festgehalten und damit einen subversiven Kontrapunkt zum inszenierten Selbstkritik-Spektakel gesetzt.
Ivens empfand bald eine gewisse Niedergeschlagenheit, wenn er seine chinesischen Träume und Utopien mit der tristen Wirklichkeit verglich. Später unterstützte er chinesische DissidentInnen und hörte dennoch nie auf, an die Selbstermächtigung der unteren Klassen zu glauben. Der letzte Film des 90jährigen Filmemachers aus dem Jahr 1988 ist sein filmisches Vermächtnis. »Eine Geschichte über den Wind« ist zugleich eine Hommage an das essayistische Kino und eine poetische Verneigung vor dem Naturelement Wind.
Gerhard Hanloser