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Sie sind hier: Startseite Zeitschrift Ausgaben 288 | Soziale Bewegungen in Indien Innocent Voices

Innocent Voices

Ein emotionales Epos von Luis Mandoki über den Bürgerkrieg in El Salvador

Rezension: Film: Innocent Voices.

"Uns lief ein kalter Schauer über den Rücken, wir saßen da mit zugeschnürten Kehlen und wollten am liebsten nur nach Hause. Durch herausragende Schauspieler und Bilder, die sich in unserem Gedächtnis festgesetzt haben und trotzdem noch Hoffnung vermitteln, zeigte der Film ein Thema, das uns sprachlos macht, über das man aber reden muss." Mit dieser emotionalen Begründung verlieh die Jugendjury der Internationalen Filmfestspiele in Berlin in diesem Jahr den Gläsernen Bären an den Eröffnungsfilm des Jugendfilmwettbewerbs. Im Oktober kommt "Voces Innocentes" (Innocent Voices) des mexikanischen Regisseurs Luis Mandoki endlich auch in die deutschen Kinos.

Für diese Produktion, die von Mexiko für den Oscar 2005 als "Bester Ausländischer Film" eingereicht, aber von der Filmakademie bei den Nominierungen nicht berücksichtigt wurde, drehte Mandoki nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder in seinem Heimatland. Nach einem erfolgreichen Kinodebüt Ende der 1980er Jahre ("Gaby: A true Story") hatte der Regisseur ausschließlich in den USA gearbeitet und landete Box-Office-Hits im romantischen Genre ("Eine fast perfekte Liebe" mit Meg Ryan; "Message in a bottle" mit Kevin Costner) sowie mit dem Action-Thriller "24 Stunden Angst", in dem Charlize Theron die Hauptrolle übernahm.

Der packende Film "Innocent Voices" über ein kleines Dorf an der Frontlinie von Guerilla und Armee im El Salvador der 1980er Jahre arbeitet mit den dramaturgischen Mitteln des Hollywood-Kinos eine wahre Geschichte auf. Auf den persönlichen Erinnerungen des 1972 in El Salvador geborenen Drehbuchautors Oscar Orlando Torres beruhend, beginnt die Handlung mit einer Gruppe von Jungen, die von schwer bewaffneten Soldaten im strömenden Regen durch ein Dorf geführt werden. Die Kinder haben ihre Hände hinter dem Kopf verschränkt, stapfen verängstigt, den Blick gesenkt, durch den aufgeweichten braunen Schlamm über eine Landstraße in den Dschungel. Beobachtet werden sie von den Dorfbewohnern, die vor ihre Häuser treten und die Militärs mit ihren minderjährigen Gefangenen ohne ein Wort oder eine Geste des Widerstands vorbei ziehen lassen.

In einem Rückblick wird die Geschichte dieser Jungen-Clique aufgerollt. Im Mittelpunkt steht der elfjährige Chava, überzeugend dargestellt von Carlos Padilla, der erste berufliche Erfahrungen bei den in Südamerika beliebten Telenovelas sammeln konnte. Chava will für immer elf Jahre alt bleiben, weil das Militär die Jungen aus seinem Dorf mit zwölf Jahren aus den familiären Zusammenhängen reißt, sie zwangsrekrutiert und für den Kampf gegen die eigenen Landsleute drillt. In El Salvador herrscht Bürgerkrieg, und die Armee braucht Kindersoldaten. In einer Szene des Films kann man den gewalttätigen Zugriff im Innenhof der Schule von Chava verfolgen. Ein Junge, dessen Namen aufgerufen wird, läuft weg. Ein Soldat rennt sofort hinter ihm her. Es fällt ein Schuss. In den Gesichtern der Kinder spiegelt sich das Wissen um den Mord an einem ihrer Mitschüler wider. Vor Angst weint ein anderer Junge, er zittert, pinkelt sich in die Hose. Urin läuft an seinen nackten Beinen herunter.

Überall ist das Militär präsent: US-Amerikanische und einheimische Soldaten gehen bewaffnet über die Straßen des Dorfes. Lastwagen stehen vor der kleinen Dorfkirche, misstrauisch werden die Einwohner bei ihren alltäglichen Arbeiten beobachtet. Immer wieder kommt es zwischen den ärmlichen Häusern mit Wellblechdächern und in den Gärten am Rande des Regenwaldes zu Gefechten mit den Widerstandsgruppen. Wenn Schüsse durch die dünnen Hauswände pfeifen, weiß Chava genau, wie er sich und seine beiden Geschwister in der Abwesenheit der Mutter schützt: Er reißt blitzschnell die Matratzen aus den Betten, drückt sie verstärkt durch Tische und Stühle an die Wand und verkriecht sich darunter.
Diese bedrückenden Szenen wechseln sich mit Schilderungen aus einem ganz gewöhnlichen Kinderalltag ab: der erste Blickkontakt, die erste Liebe zu einer Mitschülerin, Streit mit den Freunden beim Spiel am Fluss oder Ärger mit der überarbeiteten alleinerziehenden Mutter. Trotzig fordert Chava die Gefahr heraus, wenn er den verbotenen Sender der Guerilla und ihren Protestsong auf offener Straße, unter den wachsamen Augen der Militärs, auf seinem kleinen Radio hört.

Der Wunsch des Regisseurs, Betroffenheit über das Schicksal der Kinder und ihrer Familien zu erzeugen, ist in der ästhetischen Bebilderung unübersehbar. Die Wellblechhütten im sattgrünen Dschungel wirken pittoresk. Wenn sich die Jungen aus dem Dorf bei der Einfahrt des Militärs am Tag ihrer Rekrutierung alle mit dem Rücken auf deren Dächer legen, zoomt die Kamera erst an einzelne heran, um dann aus der Vogelperspektive über sie hinweg zu gleiten. Idyllische Badeszenen am Fluss wechseln sich mit heimeligen Familienzusammenkünften in den armen Hütten ab.

Ein schwieriger visueller Balanceakt, der einerseits eine Tendenz in Richtung eines politisch gut gemeinten, pathetischen Gefühlskinos aufweist, das die Gefahr für die selbst im schlammigen Dauerregen noch niedlich anzusehenden Jungen durch ein grausames Szenarium bis zum unerträglichen Höhepunkt zu steigern weiß. Andererseits wird gerade durch den dramaturgischen Spannungsbogen Empathie für deren Schicksal erzeugt. Bei den makellos inszenierten, brillant gespielten und die Klaviatur der Emotion gekonnt bedienenden politischen Filmen amerikanischer Machart zerfließt jeder am Ende in Tränen. Deren Wahrhaftigkeit lässt sich nur an "einer aufrichtigen Erzählhaltung" messen, die laut Thomas Hailer, dem Leiter des Kinderfilmfest/14 plus, Anspruch an alle ausgewählten Filme war.

"Innocent Voices" wird diesem Anspruch in der Erzählung einer authentischen Lebensgeschichte gerecht, lässt aber jenseits unreflektierter Betroffenheit über das tragische Schicksal der BewohnerInnen eines einzelnen Dorfes allzu viele Fragen nach den Ursachen und Urhebern der Gewalt in El Salvador offen. Die Umsetzung eines politischen Dramas in dieser Form hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack: Die ZuschauerInnen werden durch spektakuläre Bilder und eine sie verstärkende dramatische Tonspur manipuliert.

Ulrike Mattern ist freie Journalistin und lebt in Berlin

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