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»Wer wird durch staatliche Restitution empowered?«

In Deutschland wie in Frankreich ist Restitution ein großes Thema. Es geht um die Rückgabe von Artefakten und Gebeinen, die im Unrechtskontext des Kolonialismus gestohlen oder angeeignet wurden. 2018 beauftragte die französische Regierung den »Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter«. In diesem wird ein zügiges Verfahren für die Restitution von Objekten aus kolonialen Sammlungen vorgeschlagen. Der Bericht hat der internationalen Restitutionsdebatte wichtige Impulse gegeben und die Diskussion auch in Deutschland stark beeinflusst. Dabei unterscheiden sich die Diskussionen in Deutschland und in Frankreich. Die Wissenschaftler*innen Lotte Arndt (Paris) und Yann LeGall (Berlin) beschreiben diese Differenzen, ihre Möglichkeiten und Fallstricke.

Lotte Arndt ist Kulturtheoretikerin an der Technischen Universität Berlin beim internationalen Projekt »Reconnecting ‚Objects’: Epistemic Plurality and Transformative Practices in and beyond Museums«. Yann LeGall ist Kulturhistoriker am Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin und Mitglied des Projekts »The Restitution of Knowledge: artefacts as archives in the (post)colonial museum«. Zudem ist er aktiv bei Berlin Postkolonial und Postcolonial Potsdam. Eine Langfassung des Interviews folgt in Kürze.

 

iz3w: In Frankreich erfolgte um 2018 eine Zäsur in der Restitutionsfrage. Woher kam diese?

Lotte Arndt: Bénédicte Savoys und Felwine Sarrs Restitutionsbericht an die französische Regierung war ein Meilenstein, in Frankreich, aber auch international. Die Debatte um Restitution wurde in den 1970er-Jahren im Rahmen der UNESCO – getragen von der Kulturpolitik der unabhängig gewordenen afrikanischen Länder – mit Verve geführt. Dann setzten unter anderem die Folgen der ökonomischen Strukturanpassungsmaßnahmen der bilateralen Geber und internationalen Finanzinstitutionen und der Widerstand der Museen dem kulturpolitischen Elan ein Ende.

Bis in die 2000er-Jahre sah es nicht so aus, als würden die europäischen Museen ihre unbeweglichen Positionen revidieren. Das änderte sich mit dem Restitutionsbericht, der von einer Reihe geschichtspolitischer Berichte begleitet wurde. Nachdem die Regierung Macron 2017 die Kolonisierung Algeriens als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannte, hat sie auch einen Bericht des Historikers Benjamin Stora zu erinnerungspolitischen Fragen über die Kolonisierung und den Krieg in Algerien beauftragt. Im April 2019 wurde eine Kommission geschaffen, mit dem Auftrag, die französische Verantwortung im Genozid in Ruanda von 1994 zu eruieren. Und gegenwärtig wird nachdrücklich gefordert, dass die Verbrechen des blutigen Kolonialkrieges, den Frankreich ab 1955 in Kamerun führte, von der Regierung anerkannt werden.

 

In Frankreich scheint der Umgang mit der Restitutionsfrage klassisch zentralistisch zu laufen. Im föderalistischen Deutschland scheint sich jedes ethnologische Museum einzeln mit seinen kolonialen Sammlungen herumzuschlagen. Wie unterscheiden sich die Prozesse?

LA: Genau, Frankreich funktioniert zentralistisch. Aber ich bin mit der Einschätzung, dass es so viel weiter sei als Deutschland, nicht einverstanden. Die Frage ist eher, von wem die Debatte getragen wird und welche Resonanzen sie hat. Präsidentielles Top-Down ist zwar effizient, hat weltweit hohe Wogen geschlagen, und die Forderungen auch andernorts vorangebracht, aber was heißt das für die Prozesse, die in den Institutionen und in der Gesellschaft geschehen? Wer wird durch eine staatlich induzierte Restitution empowered?

Im deutschen Kontext begann die gegenwärtige Diskussion 2001 mit der Forderung von Herero- und Nama-Organisationen nach Entschädigung für den Genozid. Diese Forderung wurde in Form einer internationalen Klage gestellt, von Aktivist*innen aufgegriffen und von Akademiker*innen, die schon lange mit namibischen Kolleg*innen arbeiteten, begleitet. Es war also eine zivilgesellschaftliche Diskussion, an deren Anfang die Frage der Reparation stand.

Interessanterweise hat in diesen Jahren der beginnenden Reparations- und Restitutionsdiskussion auch die Idee der multidirektionalen Erinnerung (Michael Rothberg) funktioniert, denn es waren unter anderem die Verzahnungen der rassistischen Forschung, die an Gebeinen ermordeter Herero und Nama durchgeführt wurden, mit den Vernichtungspolitiken des Nationalsozialismus, die eine erhöhte Sensibilität für die Frage menschlicher Überreste in Deutschland schufen. Demgegenüber werden in Frankreich sterbliche Überreste und als Kulturobjekte klassifizierte Artefakte in ethnologischen Museen in der Diskussion komplett getrennt behandelt. Das ist in meinen Augen in mehrfacher Hinsicht ein Problem. Zunächst gerät der koloniale Aneignungskontext aus den Augen, der in der Handreichung des Deutschen Museumsbunds mit dem Begriff »Unrechtskontext« adressiert wird. Ich denke, dass der Begriff wichtig ist, und halte auch für zentral, dass sterbliche Überreste und kulturelle Gegenstände nicht in getrennten Feldern diskutiert werden, wenn man verstehen will, auf welcher Grundlage die Objektifizierung von Menschen und kulturellen Praxen geschieht.

Yann LeGall: Lotte, du hast die multidirektionale Erinnerung von Rothberg erwähnt. Tatsächlich steht Deutschland nach der breiteren Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocausts einem neuen Wendepunkt in seiner Erinnerungspolitik gegenüber, deren fester Bestandteil die Restitutionsdebatte ist. Erstens wird sie in sehr verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen geführt: Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Anatomie oder Recht. Zweitens hat die Resonanz der Bewegung Black Lives Matter in Deutschland gezeigt, dass auch wenn die Frage der Rückgabe geraubter Schätze wichtig ist, sie letztlich Teil einer breiteren und tieferen Hinterfragung einer weiß-dominierten deutschen Identität ist. Diese Hinterfragung ist mit einer Entwicklung einer neuen diplomatischen Ethik in internationalen Beziehungen verbunden. Im Bericht von Sarr und Savoy ist die Frage nicht, ob man zurückgibt, was gestohlen wurde, sondern wie. Es geht darum, mit welchen Versöhnungsprozessen diese Rückgaben begleitet werden und inwieweit sie zu gesellschaftlichen Änderungen beitragen.

Jetzt pragmatisch zum Wie; und zum deutsch-französischen Vergleich. Der Föderalismus und der Zentralismus haben je ihre Vor- und Nachteile. Föderalistische Strukturen sind ein Hindernis für einen breiteren Prozess der Restitution von geraubten Kulturgütern. Erstens wissen Akteur*innen, die ihre Besitztümer oder die Reste ihrer Vorfahren fordern, oft nicht, welche Gesetze gelten, ja sogar welche Ansprechpersonen für Anfragen zuständig sind. Auch in Deutschland selbst ist die Bevölkerung schlecht darüber informiert, auch wenn es eine sogenannte Kontaktstelle beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gibt. Zugleich schafft Föderalismus ein Klima des Wettbewerbs zwischen den Ländern und Institutionen.

Schon während der Kolonialzeit beschwerten sich Museumsdirektoren in Stuttgart und Hamburg über einen Bundesratsbeschluss von 1889, der das Berliner Museum als zentralen Ankunftsort aller Sammlungen aus den damaligen deutschen Kolonien festlegte. Die anderen Museumsdirektoren nutzten dagegen ihre Netzwerke und die Treue einiger Offiziere zu ihrer Heimatregion, um mit geplünderten Schätzen der Berliner Sammlung das Wasser reichen zu können. Ironischerweise zeigt sich heutzutage, in einer Ära der Aufarbeitung und Rückgabe, diese Konkurrenz erneut. Vergleiche sind allgegenwärtig in der Museumswelt. Einerseits ist nun dieser Wettlauf zum ‚progressivsten Museum Deutschlands‘ für die Debatten und Schritte in Richtung Restitution fruchtbar. Andererseits zeigt er, wie wenig sich innerhalb dieser Strukturen geändert hat. Die Vormacht der Stiftungen, die Hierarchien, die Starrheit in der Rekrutierungspolitik und die Last der Verwaltung bleiben.

 

Dekolonialisierung ist nicht zuletzt im kolonial kontaminierten gesellschaftlichen Bewusstsein nötig. Die genannten ethnologischen Museen haben über ein Jahrhundert lang den kolonialen Blick produziert. Es ist wichtig, nicht nur auf beeindruckende Werke wie die Benin-Bronzen zu schauen, die nun zurückgegeben werden, sondern auch einzubeziehen, wie koloniale Sammlungen zum Rassismus in Europa beigetragen haben. Deshalb scheint auch eine grundsätzliche Kritik an den ethnologischen Museen notwendig zu sein.

YLG: In der Tat. Viele der sogenannten ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum haben ihre Namen geändert: Weltmuseum in Wien, Fünf Kontinente in München, Weltkulturen in Frankfurt. Einige haben temporäre Ausstellungen entwickelt, die die Kolonialgeschichte ihrer Häuser offenlegen und reflektieren: »Schwieriges Erbe« in Stuttgart, »Reinventing Grassi« in Leipzig. In Fällen, bei denen die Direktor*innenposten nicht neu besetzt wurden, haben ehemals eifrige Widersacher*innen der Restitution ihre Sprache geändert und scheuen sich nicht mehr, »dekoloniale Einwände« zu loben. Dabei geht es nach der kritischen Einschätzung vom Leiter der ethnographischen Sammlungen Sachsen, Friedrich von Bose, um »strategische Reflexivität«.

In fast jedem dieser Museen in Deutschland bestehen ethno-koloniale Denkweisen und Merkmale fort: die geografische Aufteilung der Welt (und die Ausstellungen im Museum) in Kontinente; die Idee, dass die »Perspektiven der Anderen« durch Kooperationsprojekte eingebunden werden sollen, aber ohne die Macht- und Personalstrukturen dieser weißen Einrichtungen auf den Kopf zu stellen; die Überzeugung, dass die Museen rechtmäßige Besitzerinnen ihrer Bestände sind und Restitution dementsprechend eine wohltätige Geste anstatt Gerechtigkeit sei.

 

Was sind das für Bestände und von wem stammen sie?

YLG: In der Tat kamen mehr als 250 Sendungen afrikanischer Besitztümer, die zwischen 1884 und 1915 am Berliner Museum für Völkerkunde landeten, direkt von Kolonialoffizieren und Stationsleitern, also von Akteuren der kolonialen Staatsgewalt, die in der Regel wenig bis kein Interesse an afrikanischen Epistemologien, Sprache und Kulturen hatten. Sie verfolgten die bedingungslose Unterwerfung der afrikanischen Gesellschaften. Amateure und Wissenschaftler wie der Ethnologe Leo Frobenius ergänzten sich im kolonialen Sammeln und verfolgten manchmal unterschiedliche Schwerpunkte, die sich heute in den Museen zeigen: Berlin als zentrale Einrichtung für Kriegsbeute aus den Kolonien und Luschans koloniale Rassenforschung; Hamburg mit den Sammlungen aus den sogenannten Forschungsexpeditionen von Frobenius und Kunstmarktprofis wie Julius Konietzko und J.F.G. Umlauff; Stuttgart mit Karl von Lindens Netzwerkarbeit mit Offizieren, die die kamerunische Bevölkerung ausplünderten; Bremen mit der Marine und der Steyler Mission. Auch wenn die Museen ihre spezifische Geschichte aufarbeiten müssen, fehlen immer noch transnationale und sammlungsübergreifende Forschungs- und Kulturprojekte, die die Verwobenheit der Sammlungen in einer Globalgeschichte des Raubs erforschen.

 

Wie wurde diese beginnende Aufarbeitung erkämpft?

YLG: In Deutschland war die Erinnerung an den Genozid an den Ovaherero und Nama entscheidend. Die langjährige Arbeit der Herero- und Nama-Verbände mit der Unterstützung von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen hat zur Anerkennung dieser grausamen Geschichte beigetragen. Sie hat auch den antikolonialen Widerstand in der deutschen Öffentlichkeit präsent gemacht, wie etwa mit dem ersten namibisch-deutschen Kongress zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit im Jahr 2015 in Berlin, organisiert vom NGO-Bündnis »Völkermord verjährt nicht« oder mit der Konferenz 2016 »Prussian Colonial Heritage«, die nebeneinander den Genozid, den Maji-Maji-Krieg, die Benin-Plünderung von 1897 und den Raub der mythischen Figur der Nso Ngonnso thematisierte. Die Netzwerk-Arbeit, die NGOs wie die Overherero Genocide Foundation, die Initiative Schwarze Deutsche oder Berlin Postkolonial geleistet haben, die Bündnisse, die aus dieser Netzwerk-Arbeit entstanden sind (»No Humboldt 21!«, das bundesweite Netzwerk »Decolonize«) haben Akteur*innen zur Initiative für die Anerkennung ihrer jeweiligen Kolonialgeschichten zusammengebracht. Dazu kommt der politische Einfluss der postmigrantischen Bevölkerung. Er ist vielleicht der Schlüssel zu einer zukünftigen ethischen Museumspolitik.

LA: Ich finde super, dass du hier aktive Gruppen und Vereine nennst, die die Debatte um Kolonialismus, Rassismus, und Reparationen im vergangenen Jahrzehnt getragen haben. Und sie bewahren auch jetzt ihre Handlungsmacht, wo Staat und Institutionen dazukommen und ihre eigenen Agenden verfolgen. Mir hat im französischen Kontext diese Verknüpfung zwischen einerseits antirassistischen oder migrationspolitischen Bewegungen und andererseits der tendenziell institutionell eingebundenen Diskussion um Museen oft gefehlt.

Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Intervention des panafrikanischen Aktivisten Mwazulu Diyabanza im Juni 2020. Mit einer Gruppe von Aktivist*innen versuchte er, einen tschadischen Grabpfahl aus dem Musée du quai Branly zu entfernen. Er übertrug den vorhersehbaren Misserfolg (die Museumswärter hinderten die Aktivist*innen, das Museum zu verlassen) live per Mobiltelefon in den sozialen Netzwerken. Tausende verfolgten und bejubelten die Aktion.

Diese Aktion, die die Gruppe als »aktive Diplomatie« bezeichnet, hat bei vielen Museen Empörung hervorgerufen. Das liegt daran, dass die Aktion zumindest symbolisch die Entscheidungsmacht umkehrt, indem sie fragt, wer die Artefakte nutzen darf. Interessant ist auch, dass hier nicht appelliert wird, Publikum ‚mit Migrationshintergrund‘ in die Museen zu holen, um dabei weiter die erzieherische Geste des aufklärenden Staats fortzuschreiben. Vielmehr geht es darum, die Bilder dort zirkulieren zu lassen, wo transnationale Kommunikation stattfindet: im Internet und in den sozialen Netzwerken. Das Museum wurde so in mehrfacher Hinsicht ausgespielt, einschließlich sozialpolitisch, indem die Aktion sich dem hohen Eintrittsgeld entzieht und indem sie klarmacht, dass die Institution nicht als legitime Besitzerin angesehen wird.

 

Das Interview führte Winfried Rust (iz3w).