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Zuerst starben die mit dem großen E: Das Archiv des iz3w

von Christian Neven-du Mont (2013)

Mit 42 Jahren auf dem Buckel ist das Archiv des iz3w Freiburg das älteste in diesem Band. Unser Rekord hat allerdings einen kleinen Haken, denn, genau genommen, ist unser Archiv, obwohl es immer so hieß, kein Archiv, sondern ein Dokumentationszentrum. Das „Bewahren und Erhalten“ war nie ein vorrangiges Ziel, viel eher, wie es auch im Namen des Informationszentrums Dritte Welt zum Ausdruck kommt, die möglichst aktuelle Information.

Um die Jahrtausendwende schämten sich manche gar, ob des angehäuften Papierbergs und wären ihn am liebsten unauffällig losgeworden. Erst heute, wo wir immer häufiger selbst zum Gegenstand historischer Forschung werden und 142 Zeitschriften besitzen, die es im deutschen Sprachraum nur noch bei uns gibt, tritt das Bewahren stärker in den Vordergrund.

Aufgebaut hat das Informationszentrum ab 1970 der Verein Aktion Dritte Welt, der 1968 von Studenten mit der reformistischen Perspektive gegründet worden war. Eine „Lobby für die Dritte Welt“ zu bilden d. h. Druck auf Regierung und Politiker auszuüben, damit die staatliche Entwicklungshilfe drastisch erhöht werde und Armut und Hunger bald von der Erdoberfläche verschwinden könnten. Prominenter Adressat und zugleich Förderer dieses Lobbyings war der Entwicklungshilfeminister der sozialliberalen Bundesregierung, Erhard Eppler.

Dieser Lobby-Ansatz setzte allerdings ein unkritisches Verständnis von Entwicklung und Entwicklungshilfe voraus, das schnell ins Wanken geriet, als die Mitglieder der Aktion Dritte Welt begannen, sich näher mit der Realität des Südens zu befassen. Die eher sozialdemokratisch oder christlich geprägte Gründergeneration radikalisierte sich rasch und erhielt Zulauf von 68ern, die ihre Hoffnung auf eine baldige Revolution in der BRD schon begraben hatten und sich der Dritte-Welt-Bewegung zuwandten. Sie hofften, der Aufstand der Armen, manifestiert in zahlreichen Befreiungsbewegungen des Trikonts, könnte die verkrusteten Verhältnisse, an denen sie gescheitert waren, umwälzen und das Versprechen Mao Tse-Tungs und Che Guevaras wahr machen, daß das Land die Städte erobern werde... Wenn es im eigenen Land schon nicht voranging, so schien es doch im Weltmaßstab voranzugehen. Ein Kommilitone, aus ihm sollte später ein Funktionär der Weltbank werden, rechnete 1970 vor, daß sich der Sozialismus seit der Oktoberrevolution mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1.823 Quadratkilometern pro Tag über die Welt verbreite.

Dazu wollten wir einen Beitrag leisten. Zunächst ging es darum, eigene Wissensdefizite abzubauen. In der deutschen Presse fand sich damals nur wenig und noch weniger Vernünftiges über die Länder des Südens. Die Öffentlichkeit der Kolonialistenländer England und Frankreich wurde wesentlich besser informiert. Wir abonnierten Le Monde diplomatique, Jeune Afrique, Far Eastern Economic Review, New African usw. und schnitten einschlägige Artikel aus deutschen und ausländischen Zeitungen aus. Seit 1970 erscheint unsere Zeitschrift blätter des iz3w, seit 2003 mit dem schlichten Titel iz3w. Fachleute waren selten, Reisen in andere Kontinente auch, unser einziger hauptamtlicher Redakteur war noch nie in einem Land der Dritten Welt gewesen. Reihum wurden die Aufgaben verteilt, anhand des gesammelten Archivmaterials Artikel über Länder zu schreiben, die wir in den meisten Fällen noch nie gesehen hatten. Es war daher kein Wunder, daß zunächst die SammlerInnen des Archivmaterials selbst die eifrigsten NutzerInnen des Archivs waren und denen ging es nicht ums Bewahren, sondern um Hintergrundwissen und Aktualität.

Die Zeitschrift und ihr Archiv entwickelten sich recht dynamisch. 1980 erreichten die blätter des iz3w eine Auflage von 7.000, unser Buch Entwicklungspolitik – Hilfe oder Ausbeutung? durfte in keiner Wohngemeinschaft fehlen und eine Selbstdarstellung aus dem gleichen Jahr gibt an, daß täglich ca.25 Informationsanfragen eintreffen, wobei allerdings Materialbestellungen und Archivanfragen zusammengezählt sind. Ende der 80er wuchs uns gar der Anfragenberg über den Kopf: ein Protokoll vom 15.5.1988 vermerkt: „ Auf keinen fall soll mehr nach außen hin publik gemacht werden, dass wir Anfragen beantworten. In den 80er Jahren waren zwei Kollegen hauptamtlich mit der Verwaltung des Archivs beschäftigt. Vermutlich haben die systemkonformen Ursprünge der Aktion Dritte Welt dazu beigetragen, daß uns von Anfang an und bis heute viele Zeitschriften geschenkt wurden und werden: Von etwa 200 laufenden Zeitschriften, die das Archiv bezieht, die Gesamtzahl dieser Zeitschriften ist erstaunlicherweise in den letzten fünfzehn Jahren etwa gleich geblieben, beziehen wir mehr als 100 ohne Gegenleistung und die übrigen als Austauschabo. Das Archiv kommt so heute, wo die Arbeit von einem Ehrenamtlichen und wechselnden Praktikantinnen und Praktikanten geleistet wird, fast ohne Budget aus.

Die blätter des iz3w waren 1970 eine der ersten weder staatlichen noch kirchlichen Zeitschriften, die sich schwerpunktmäßig mit dem Trikont befaßten. Im Laufe der 70er Jahre kamen weitere hinzu, von denen es manche noch heute gibt ILA, (Chile-) Lateinamerika Nachrichten, Afrika Süd, Südostasien usw.

Trotz der Befreiungskampf-Euphorie der Anfangsjahre waren die am häufigsten behandelten Themen Abwehrkämpfe, so ist es bis heute geblieben. Das begann mit dem Vietnamkrieg, wo nach dem Sieg der Vietnamesen 1975 die internationale Solidarität fast zum Erliegen kam und zeigte sich besonders deutlich am Beispiel Chiles: Die Regierung der Unidad Popular (1970-1973) galt zu ihrer Zeit vielen westdeutschen Linken als eine eher uninteressante Spielart der Sozialdemokratie, für die sie nicht viel mehr Sympathie empfanden als für das zeitgenössische Schweden. Obwohl Präsident Salvador Allende häufig warnte: „Wir sind an der Regierung, aber nicht an der Macht,“ sahen nur wenige die Gefahr eines Militärputschs und niemand dachte, daß es Augusto Pinochet und seinen Spießgesellen gelingen würde, noch bis ins 21. Jahrhundert in Chile die ungleichste Einkommensverteilung im ohnehin oligarchischen Lateinamerika zu etablieren, derzeit garniert mit einem Milliardär als Präsidenten.

Trotz dieses Desinteresses setzte nach dem Putsch am 11. September 1973 die größte Solidaritätsbewegung meiner Generation ein, die zwar vielen Flüchtlingen half, aber an den Machtverhältnissen und auch am Siegeszug des Neoliberalismus, der passenderweise in dieser Militärdiktatur seinen Anfang nahm, nichts mehr ändern konnte. Hierzu empfiehlt unser Archiv Andre Gunder Frank (1) Der Grad der Mobilisierung drückt sich noch heute in unserem Archiv in Regalmetern aus.

Auch im Fall Palästinas fehlte und fehlt es völlig an einer Sieges- oder auch nur Friedensperspektive, dennoch bringen es Israel und Palästina zusammen auf über12 Regalmeter, Zeitungsausschnitte, Broschüren und länderspezifische Zeitschriften jeweils zusammengerechnet - etwa doppelt so viel wie jedes andere Land. Dabei ist Israel das einzige Land, das offiziell erklärt hat, es gehöre nicht zur Dritten Welt. Die Intensität des Schreibens und Sammelns, auch in den ersten acht Monaten des Jahres 2012 liegen Israel und Palästina mit 294 neuen Fundstellen weit vorne, sagt allerdings heute nur noch wenig über die Nachfrage nach dem Archivgut aus, eine Anfrage zu Palau ist fast so wahrscheinlich wie eine zu Palästina, nur bei unbedeutenden Ländern und seltenen Themen haben wir noch eine Chance, wahrgenommen zu werden.

Daß die Sammeltätigkeit auch früher vorwiegend durch Abwehrkämpfe bestimmt war, zeigt sich auch daran, daß zu Nicaragua, einem Land mit einer zeitweise erfolgreichen Revolution, das zehn Jahre lang ein Mekka für zehntausende von Revolutionstouristen war, nur wenig mehr Material gesammelt worden ist (5,20m) als zu El Salvador (5m). In diesem Land scheiterte bekanntlich die Revolution und die nationale Befreiungsbewegung  diskreditierte sich schon in den 70er und frühen 80er Jahren durch gewaltförmige innere Konflikte, insbesondere die Morde an dem Dichter Roque Dalton (1975) und der Guerillakommandantin Ana Maria (Mélida Anaya Montes, 1983).

Revolutionsromantik und, ganz allgemein gesprochen, positive Identifikationsangebote und Lösungsansätze sind in unserem Archiv mengenmäßig schwach vertreten, Beschreibungen und Analysen trister Realitäten überwiegen. Autoren, die sich mit der Geschichte der Dritte-Welt-Bewegung und des Internationalismus befaßt haben, heben scharfe Zäsuren, Brüche mit der Vergangenheit und Neuanfänge hervor. Sie haben wohl recht. Unsere Datenbank www.archiv3.org empfiehlt hier Moe Hierlmeier (2). Anhand des Archivmaterials läßt sich dieses Auf und Ab allerdings nur schwer nachvollziehen, vielmehr zeigt sich eine verblüffende Kontinuität. Natürlich wurde die Sammeltätigkeit der Archivare durch das Angebot und durch Moden beeinflußt, es wurde gesammelt, was publiziert wurde und wenn man sieht, daß das Oslo-Abkommen zwischen Israel und der PLO (1991-1993), das heute das Papier nicht mehr wert ist, auf dem es gedruckt wurde, sieben Zeitungsausschnitts-Ordner gefüllt hat, ergreift einen Mitleid mit den eifrigen Sammlerinnen und Sammlern.

Im Ganzen aber sind Themenwahl und Schwerpunktsetzung von Antimilitarismus bis Wirtschaft sehr ähnlich geblieben: Schon bald wird Fremdenverkehr zu Tourismus, irgendwann werden Indianer zu Indigenen und Frauen müssen sich damit abfinden, in Zukunft eine Unterkategorie von Sex & Gender zu sein. Irgendwann weiß keiner mehr, was genau People of  Color sind und irgendwann kommen Digitale Welten hinzu; Kampagnen kommen und gehen, aber das wars dann auch schon. Gesellschaftliche und technische Entwicklungen wie das Aufkommen des Internet und das dadurch veränderte Rechercheverhalten haben mehr Einfluß auf  das Sammeln und die Nachfrage gehabt, als alle Kopfschmerzen (3) der Dritte-Welt-Bewegung zusammen. Diesbezüglich empfiehlt unser Archiv den oben erwähnten Roque Dalton:

Über Kopfschmerzen

Es ist schön, Kommunist zu sein,
auch wenn man davon Kopfschmerzen bekommt.

Wobei die Kopfschmerzen der Kommunisten
sich historisch erklären, das heißt,
sie gehen nicht weg von Schmerztabletten,
sondern nur von der Errichtung des Paradieses auf Erden.

So ist das.

Unter dem Kapitalismus tut uns der Kopf weh,
und sie schlagen uns den Kopf ein.
Im Kampf für die Revolution ist der Kopf eine
Zeitzünderbombe.

Beim sozialistischen Aufbau

planen wir die Kopfschmerzen,
wodurch sie nicht weniger werden, ganz im Gegenteil.

Der Kommunismus wird sein, unter anderem,
Ein Aspirin von der Größe der Sonne.

 

Zeitschriftensterben

Mitte der Achtziger Jahre kam unsere Expansion schon zum Stillstand, die eigene Zeitschrift begann, Abonnenten zu verlieren, andere Zeitschriften lagen schon im Sterben. Zuerst starben die mit dem großen E. Wer ein E wie Entwicklung oder Entwicklungspolitik im Namen hatte, hatte bald keine Chance mehr, offenbar hatten zwei Entwicklungsdekaden genügt, den Begriff Entwicklung gründlich in Verruf  zu bringen. Schon 1980 erkannte die Zeitschrift Entwicklungsländer (ew-dienst) die Zeichen der Zeit und benannte sich in Auszeit um, damit einen Trend zu sinnfreien Titeln vorwegnehmend, der erst ein Jahrzehnt später um sich griff: Alaska, Phase 2 usw. Ähnlich verfuhren pfiffige Schweizer, die versuchten, dem Tod von der Schippe zu springen, indem sie ebenfalls 1980 den Rundbrief Schweizerische Arbeitsgruppen für Entwicklungspolitik zuerst in Südwind, dann in Mosquito umbenannten. Der Tod kam in beiden Fällen später, kam aber doch. Nur die Österreicher konnten ihre Entwicklungspolitischen Nachrichten erfolgreich umbenennen, sie heißen noch heute ebenfalls Südwind. 1993 starben die Entwicklungspolitische Korrespondenz und die Entwicklungspolitischen Informationen, 1994 die Entwicklungspolitischen Kommentare und Informationen und im 21.Jahrhundert ging es sogar staatlichen und kirchlichen Publikationen an den Kragen, nach dem Vorbild der toten DDR starben viele durch Zwangsfusion: Aus Entwicklung und ländlicher Raum wurde Rural 21, epd-Entwicklungspolitik und den ded-brief des Deutschen Entwicklungsdiensts ereilte der Tod. Nur das Wort Entwicklungszusammenarbeit  darf weiterhin zwei Lügen vereinen und auch die Entwicklungsländer müssen heute noch so heißen, auch wenn sie, wie Bolivien in ihre Verfassung schreiben, daß sie lieber ein gutes Leben hätten. Gescheiterte Staaten darf es ruhig geben, Entwicklungsmuffelländer aber auf keinen Fall. Entwickelt muß werden, auch wenn das in Athen, Bethlehem, Cajamarca, Damaskus oder Detroit heute wie Hohn klingt.

Vor diesem Hintergrund müssen wir unseren Gründungsvätern und –müttern wohl dankbar sein, daß sie sich trotz ihres Faibles für Entwicklung für das 3w entschieden haben: der Begriff Dritte Welt wurde in den 50er Jahren in Frankreich als Analogie zum Dritten Stand mit seinem Drang nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geprägt und hat in unserer neoliberalen Welt, die zwar von Freiheit spricht, von Gleichheit und Brüderlichkeit aber nichts wissen will, weiterhin etwas Revolutionäres. Das Original, Tiers Monde, also wörtlich Drittelwelt, weist auch darauf hin, welcher Teil vom Kuchen für neun Zehntel der Menschheit vorgesehen ist.

Zu warnen ist, nach unserer Erfahrung, auch vor einem Anti- im Namen. Es starben das Antiimperialistische Informationsbulletin und das Antimilitaristische Informationsbulletin, Die Zeitschrift Antirassistischer Gruppen und das Antifaschistische Informationsbulletin gibt es noch, wer sich allerdings Antifaschist nennt, zeigt damit, daß er schon darauf verzichtet hat, dem Faschismus den Entwurf einer gleichen und solidarischen Gesellschaft entgegenzustellen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Die Antideutschen haben ihre Zeitschrift vorsichtshalber nicht Anti-, sondern nach einem Ort benannt, an den man ihresgleichen wünschen will, weit weg und mit einem breiten Wassergraben drum herum: Bahamas. Dafür hat sie selbst das Schicksal ereilt, zu sein wie ihr Anti: Selbstgerecht, rassistisch und militaristisch. Unser Archiv führt auch diese Zeitschrift, ein Dokumentationszentrum muß, wie jede Bibliothek, pluralistisch sein, wenn es interessant sein soll.

Trotz des Zeitschriftensterbens und des zusammenbrechenden Staatssozialismus konnte man am Ende der 1990er Jahre verwundert feststellen, daß es nicht weniger, sondern mehr Dritte-Welt-Zeitschriften gab, es waren wesentlich mehr neu gegründet worden, als in den beiden Jahrzehnten zuvor. Das Ende mancher Gewißheiten, scheint die Debatte eher stimuliert als abgewürgt zu haben. Auch unserer Zeitschrift scheint es nicht geschadet zu haben, daß sie sich den Untertitel ‚Die Zeitschrift zwischen Nord und Süd’ zulegte und damit kundtat, daß sie nicht Baum noch Borke sein wollte.

Eine Erklärung für das Gründungsfieber der 90er Jahre könnte darin liegen, daß man zwar nicht mehr an Entwicklung und wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt glaubte, auch nicht an ‚große Theorien’, dafür nun aber um so inniger an den Fortschritt der Sozialwissenschaften und ihrer Theorien und meinte, sich über alles erheben zu können, was die Menschheit, darunter auch man selbst, in vergangenen Jahrzehnten gedacht hatte. Es leuchtet nicht unbedingt ein, warum es mit der Sozialwissenschaft aufwärts gehen soll, während es mit unserer übrigen Lebenswelt abwärts geht, aber dieser Glaube war und bleibt tief verwurzelt. Diejenigen, die vorher „Entwicklungspolitische Aktionsgruppen“ hießen und nun weder von Entwicklungspolitik noch von Aktion etwas wissen wollten, gaben ihren Publikationen neue Namen, gern aus süd- oder westeuropäischen Fremdsprachen: Sul Serio, fantômas… Vielleicht nicht  ohne tiefere Bedeutung ist, daß sie damit dem Vorbild der Automobilkonzerne folgen, die schon vor sechzig Jahren italienisch begonnen haben (Isabella, Isetta…) und heute eher das Lateinische oder Griechische bevorzugen (Omega, Clio- die Muse der Geschichtsschreibung - Prius, Focus…) Die neue Popularität des Griechischen verträgt sich nicht recht mit der der Griechen, aber da auch Chemie- und Elektrokonzerne sich dem Trend nicht entziehen können (Novartis, Syngenta, E-on), darf man erwarten, daß auch die Dritte-Welt-Zeitschriften demnächst ihre altphilologische Ader entdecken werden. Manche demonstrieren Entschlossenheit,  indem sie ihren südeuropäischen Namen mit einem oder zwei Ausrufezeichen versehen: !Arranca! oder ¡Atención! eine eher kurzlebige Zeitschrift nannte sich gar Kalaschnikow, dennoch sind sie jetzt aber eher distanziert und kontemplativ gestimmt.

Ein Abebben der Papierflut und damit einen Einschnitt im Leben des Archivs brachte erst     der Siegeszug von Google im neuen Jahrtausend. Mit der Gründung des Archivverbunds  Archiv³aus zur Zeit elf Dritte-Welt-Archiven  und dem Aufbau einer frei zugänglichen Datenbank mit über 200.000 Fundstellen und tausenden von Zeitschriftenartikeln im Volltext versuchen wir, die neuen Möglichkeiten zu nutzen.

Die neuen Recherchemöglichkeiten haben allerdings die über Jahrzehnte gesammelte, gefühlte oder tatsächliche Million Zeitungsausschnitte entwertet, da es aufgrund ihrer Menge nicht möglich ist, sie anders als pauschal zu erfassen und zu verschlagworten. Aus Platzgründen haben wir bereits unseren Bestand an Zeitungsausschnitten und Broschüren zu Afrika einschließlich Ägyptens und des Maghreb an die Basler Afrika-Bibliographien abgegeben (Klosterberg 23, CH 4051 Basel www.baslerafrika.ch ).

Mit unserer Datenbank treten wir allerdings nur noch mit denjenigen Nutzern schriftlich oder persönlich in Kontakt, die bei uns Kopien bestellen oder vorbeikommen. Wenn sich jemand nur Texte herunterlädt, bekommen wir das gar nicht mit. Artikel aus Zeitschriften, über deren Copyright die beteiligten Archive selbst verfügen oder die uns das erlauben u.a. iz3w und Lateinamerika-Nachrichten, können großenteils gleich kostenfrei heruntergeladen werden.

Die Datenbank enthält ca.1.500 Zeitschriften, darunter alle oben genannten, fast 1000 von ihnen, einschließlich Monographien, sind im Archiv des iz3w vorhanden. Etwa 150.000 Zeitschriftenartikel sind mit einem eigenen Thesaurus aus etwa 200 festen und vielen freien Schlagworten erfaßt, 30.000 Bücher und ebensoviele Broschüren, 3.000 Unterrichtsmaterialien und 1000 AV-Medien. Als Beispiel für eine Merkliste, auf die man sich Fundstellen setzen kann, die interessant erscheinen, sind die Fußnoten dieses Artikels dargestellt.

Allgemein gehaltene Suchwörter wie z. B. „Frauen“ ergeben aufgrund der Datenmenge nur Treffer aus jüngster Zeit, ältere Materialien muß man mit Hilfe der „Erweiterten Suche“ suchen. Etwa 200 laufende Zeitschriften von Actas Latinoamericanas de Varsovia bis zur Schweizer Wochenzeitung WOZ und ZAG Zeitschrift antirassistischer Gruppen werden von den Archiven des Verbunds systematisch verschlagwortet, teils komplett, teils nur das, was interessant erscheint; Broschüren und andere Materialien nach den Kriterien der einzelnen Archive. Bei der Auswahl schwanken wir Archivare oft zwischen Goethe und Lenin: Lenin sagt „Lieber weniger, aber besser“, Goethe sagt „ Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“. Da Goethes Devise weniger Nachdenken erfordert, tendieren wir eher zu Goethe. Wünschenswert wäre, aber das ist noch Zukunftsmusik, auf besonders interessante Neuheiten  auf der Homepage hinweisen zu können.

Die Nutzungshäufigkeit läßt sehr zu wünschen übrig und nimmt auch leider tendenziell ab, obwohl unsere Datenbank täglich reichhaltiger wird. Google-Analytics verrät, daß drei Viertel der jährlich 20.000 Besucher über die Google-Suche zu uns gelangen, eine Bestellung schickt uns leider nicht einmal jeder hundertste davon. Mit der Bequemlichkeit der Internet-NutzerInnen, die nach Informationen suchen, die sie sich möglichst leicht und schnell herunterladen können, werden wir wohl auch in Zukunft rechnen müssen.

Viele unserer Mitgliedsarchive beobachten seit geraumer Zeit einen Rückgang der Bestellungen aus dem Umfeld der Hochschulen. Möglicherweise ist dies dem neoliberalen Bologna-Prozeß an den Universitäten geschuldet: Das Bachelor-Studium zwingt die Lernenden zu einem hohen Lern- und Schreibtempo und führt damit tendenziell zu einer eher oberflächlichen denn tiefschürfenderen Beschäftigung mit einem Thema. Nicht nur für den berühmten Blick über den Tellerrand sondern auch für die kritische Reflektion bleibt offensichtlich immer weniger Zeit: Ein Schuft, der Böses dabei denkt.

Für uns ist das größte Problem an der heutigen Struktur des Internet, daß nach Buch- und Zeitschriftentiteln leicht recherchiert werden kann, die Suche nach Inhalten, zum Beispiel Zeitschriftenaufsätzen, aber nach wie vor sehr schwierig ist und man sich einer unübersichtlichen Vielfalt von unterschiedlich strukturierten Datenbanken (Wer einmal eine erarbeitet hat, will auch an ihr festhalten) und einer monopolistischen Struktur von Suchmaschinen gegenübersieht. Was zum Beispiel die Auswahlkriterien von Google angeht, hat die Öffentlichkeit noch wenig Problembewußtsein.

Eine gewisse Vereinheitlichung und Zentralisierung der Zugriffsmöglichkeiten über das Internet, zumindest in unserem eigenen Milieu, wäre sicher wünschenswert, wir sollten aber auch danach streben, lokale Archive, wo es irgend geht, zu erhalten. Das Mauerblümchendasein, das elektronische Zeitschriften führen, deutet darauf hin, daß noch sehr lange Papier vollgeschrieben und gesammelt werden wird.

 

Christian Neven-du Mont (2013)

 

1.  (Graue Literatur *1977) Frank, Andre Gunder; iz3w (Hg.)

Ökonomischer Völkermord in Chile Offene Briefe an den Nobelpreisträger Milton Friedman

Aktion Dritte Welt *Freiburg * Seite 1-65

Themen: Agrarpolitik, Diktatur, Genozid, Sozialismus, Wirtschaftspolitik*

Chile* Dok-Nr.187585, Dok-Art: Broschüre

Standorte: FDCL Berlin (CH 212); iz3w Freiburg (Chile)

 

2. (Buch * 2002) Hierlmeier, Josef (Moe)

Internationalismus Eine Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus – von Vietnam bis Genua

Schmetterling* Stuttgart* Seite 7- 180

Themen: Geschichte, Internationale Solidarität; Linke, Neoliberalismus*

Dok-Nr.123571* Dok-Art: Sachbuch

Standorte: Kemnik, Konstanz (Int/2002/Kem 00717)

 

3. (Artikel * 1993) Dalton, Roque

Roque Dalton: Liebesgedicht, „El Salvador mit Herz”, Angst, Über Kopfschmerzen, Ich lass mich auf Geschichten ein

in Quetzal Nr. 4/5* Seite 28-28

Themen: Literatur * El Salvador * Dok-Nr: 65079 * Dok-Art: Gedicht

Standorte: DWL Erlangen; FDCL Berlin; iz3w Freiburg