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„Tod dem Diktator!“ - Ein Erfahrungsbericht aus Teheran

Seit Wochen protestieren Menschen im Iran gegen das dortige Regime. Unsere Autoren berichten von ihren Erfahrungen in Teheran.

Protest an der Amirkabir-Universität für Technologie am 20. September 2022

Protest an der Amirkabir-Universität für Technologie am 20. September 2022

 

von Thomas Pesche und Wolfgang Haller

Das erste Grüppchen versprengter Protestierender begegnet uns am Abend des 19. Septembers 2022 unweit des bekannten Teheraners Valiasr-Platzes. Wir müssen den Bus wegen der verstopften Straßen verlassen. „Nieder mit dem Diktator“ skandieren die Protestierenden. Sie sind wegen Mahsa Amini auf die Straße gegangen, die am 16. September im Krankenhaus verstarb, nachdem sie von der Moralpolizei verhaftet worden war, weil sie ihr Kopftuch auf eine zu legere Weise trug und ihr Haar nicht vollständig bedeckte. Von den Menschenmengen auf der Geschäftsmeile Valiasr werden die Jugendlichen eher neugierig betrachtet. Der Höhepunkt der Demonstration, die am Nachmittag von der Hejab-Straße aus loszog, ist bereits überschritten. Polizisten in Kampfmontur und Wasserwerfer stehen eher passiv am Valiasr-Platz und blockieren den Verkehr. An diesem Abend ist noch nicht abzusehen, dass sich aus diesem ersten Aufbegehren landesweite, ausdauernde und sich radikalisierende Proteste entwickeln würden, welche mittlerweile fast zwei Monate anhalten.

Verlauf der Proteste

Wohl aufgrund der raschen und brutalen Niederschlagung der Proteste waren Großdemonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmenden nur anfangs zu beobachten. Danach verhinderten Polizisten in Kampfmontur und mit Tränengas und Gummigeschossen bewaffnet die Bildung größerer Menschenansammlungen auf den wichtigen Plätzen Teherans. Die folgenden Tage waren durch ein abendliches Katz-und-Maus-Spiel junger Frauen und Männer mit den Sicherheitskräften gekennzeichnet, das sich über weite Teile Teherans erstreckte, darunter auch die eher gehobenen Stadtviertel im Norden.

Deutlich aggressiver und zumindest den im Internet verbreiteten Videos zufolge breiter aufgestellt waren die Proteste in den vornehmlich kurdisch bewohnten Provinzen im Westen des Landes. Der Einsatz scharfer Munition und die ersten Toten der Proteste wurden von dort gemeldet. Mitschnitte, die vermutlich Polizisten in Zivil zeigen, welche mit Sturmgewehren und Pistolen in Richtung der Demonstrierenden feuern, haben den Widerstandswillen wohl eher noch angeheizt. Das ist ein erstes Anzeichen dafür, dass die Politik des Regimes, die Proteste durch schnellstmögliche brutale Abschreckung zu unterbinden, nicht aufgeht. Stattdessen greifen die Proteste auf weitere Bevölkerungsgruppen über. In südöstlich gelegenen Zahedan, in der Provinz Sistan und Belutschistan, schossen Sicherheitskräfte am Freitag, den 30. September, mit scharfer Munition auf eine Gruppe Protestierender und töteten lokalen Medien zufolge mindestens 93 Menschen. Der sunnitische Geistliche Molavi Abdul Hamid hat dort daraufhin öffentlich das Regime kritisiert. Inzwischen sind in elf wichtigen Fabriken Streiks ausgebrochen, überwiegend in der petrochemischen Industrie. Das widerspricht der These, die Proteste würden nur von einer kleinen Minderheit der oberen Mittelschicht getragen. Überraschend für das Regime dürften auch die durch den Koordinierenden Rat der Lehrergewerkschaft ausgerufenen Streiks sein. Die Streikenden solidarisieren sich mit den protestierenden Schüler*innen und Studierenden. Die Proteste in den Schulen und Universitäten, bei denen vor allem junge Mädchen mit und ohne Kopftuch, das Regime kritisieren; und in öffentlichen Gebäuden Bilder Khameneis abhängen und zerstören, gehören aktuell zu den wirkmächtigsten Bildern des Protests.

Situation in Teheran

In Teheran entwickelte sich im Folgenden ein fast ritualisierter Ablauf. Seit Ende September wird – wie in allen Landesteilen – täglich ab 16 Uhr das Internet durch die meisten Anbieter gesperrt. Soziale Netzwerke und Messenger wie Instagram und WhatsApp, die auch im Iran bis dato noch frei zugänglich waren, sind nicht mehr abrufbar. Dienste wie Google sind durch die Safe Search nur eingeschränkt nutzbar, viele den Protesten zuordenbare Begriffe, wie beispielsweise Namen von politischen Aktivist*innen oder bekannten Opfern der Sicherheitskräfte (etwa Nika Shakami) können nicht aufgerufen werden. Auf den Straßen ist ab den Mittagsstunden eine sich allmählich erhöhende Polizeipräsenz wahrnehmbar. Insbesondere an den zentralen Plätzen positionieren sich Kampfgruppen, zum Teil unterstützt durch gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer. Hinzukommen die Motorradeinheiten der Bassij (eine aus Freiwilligenverbänden aufgebaute paramilitärische Miliz), die durch die Straßen patrouillieren. Ansonsten gutbesuchte Parks und Grünanlagen bleiben leer und viele Tehraner*innen versuchen, die bekannteren Protestorte zu umfahren und bei Anbruch der Dunkelheit nicht mehr auf der Straße zu sein.

Trotz aller Einschränkungen kann das Regime die Proteste nicht unterdrücken. Fast allabendlich flackern an unterschiedlichen Straßenzügen und Plätzen Teherans Proteste auf. Es sind überwiegend Gruppen junger Frauen und Männer, die regimekritische Slogans skandieren und denen für wenige Momente die Straße zu gehören scheint, bevor mobile Sicherheitskräfte eintreffen und die Orte zumeist weiträumig abriegeln. Mit welcher Härte und Beliebigkeit sie vorgehen, erleben wir unter anderem in den Abendstunden des 24. Septembers an der Kreuzung Valiasr Avenue und Enghelab Straße. Während der Abendverkehr auf dem Platz offenbar wieder geordnet läuft, haben sich Demonstrierende – unter ihnen auch Verletzte – in die gleichnamige und weitläufige Metrostation geflüchtet. Die Ein- und Ausgänge werden von Sicherheitskräften flankiert. Junge und damit den Protesten vermutlich nahestehende Personen, die versuchen die Metrostation zu verlassen, werden ohne Vorwarnung und aus kurzer Distanz mit Gummigeschossen auf Kopfhöhe attackiert.

 

Frauen, deren Kopftuch beim Autoverfahren nicht konform sitzt, erhalten eine warnende SMS

 

Auch wenn davon auszugehen ist, dass die nächtlichen Proteste und der Widerstand gegen die Polizeigewalt bis Mitte Oktober in Teheran nur von kleinen Gruppen mutiger Jugendlicher organisiert und durchgeführt wurden, scheint die Solidarität in der Bevölkerung groß zu sein – und sie wächst mit den anhaltenden Protesten. Während der gescheiterten Grünen Revolution (der Antiregimeproteste im Rahmen der Präsidentschaftswahlen 2009) hallte noch der Ruf „Allahu Akbar“ von den Dächern Teherans und sorgte für ein Solidaritätsgefühl unter den Regimegegner*innen. Nun hört man – vor allem im eher wohlhabenden Norden Teherans – allabendlich den Ruf „Tod dem Diktator“ von den Dächern. Auch auf den Straßen kommt es regelmäßig zu Hupkonzerten, die Unterstützung mit den Protesten ausdrücken sollen. Mahsa Aminis Name und der Slogan „zan, zendegi, azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) wird im Straßenbild mit Graffitis verankert und diejenigen, die trotz der Filter über VPNs Zugang zu den sozialen Netzwerken haben, teilen Videoaufnahmen und Bilder von den Protesten der vergangenen Nacht.

Position des Regimes

In den staatlichen Medien wurden die Proteste lange als lokale Ausschreitungen heruntergespielt, die von den Sicherheitskräften rasch unter Kontrolle gebracht wurden. Mit zunehmender Breite der Proteste wechselte das Erzählmuster. Der Vorwurf der Unruhestiftung wurde verknüpft mit der Anschuldigung der Agententätigkeit für westliche Nationen, die die iranische Gesellschaft destabilisieren wollten. In den sozialen Netzwerken gepostete Bilder sowie Videos, die das brutale und teils menschenverachtende Vorgehen der Sicherheitskräfte belegen, werden nicht gezeigt. Auch vom Sturm auf die international bekannte Sharif-Universität in Teheran am 2. Oktober 2022, bei dem neben Studierenden auch Professoren teils schwer verletzt wurden, blieb weitestgehend unerwähnt. Stattdessen laufen in den Nachrichten Aufnahmen von regimetreuen Demonstrationen, zu denen das Regime seine Anhänger*innen kurzerhand zu mobilisieren weiß. So versammelten sich etwa anschließend an das Freitagsgebet am 23. September Tausende im Zentrum Teherans und signalisierten ihre Unterstützung mit dem religiösen Führer Ali Chamenei, Präsident Ebrahim Raisi und den vom Regime vermittelten religiös-sozialen Werten der Islamischen Republik.

Für weite Teile der Zivilgesellschaft scheinen diese Botschaften aber ungehört zu verhallen. Auf unserem Flug nach Teheran spotteten Iraner*innen über ihre Regierung und hatten das Bedürfnis, sich für deren Handeln zu entschuldigen. Eine Erfahrung, die wir täglich auch mit Schaffnern, Verkäuferinnen oder Taxifahrern machten – die Unzufriedenheit mit dem theokratisch-politischen Regime wiegt überall schwer. Trotzdem sind es überwiegend junge Menschengruppen, die die offene Konfrontation mit dem etablierten System suchen. Hier scheint ein informeller Generationenvertrag vorzuliegen: In Gesprächen wird deutlich, dass viele Iraner*innen in ihren jungen Jahren an Anti-Regierungsprotesten teilnahmen und es als eine ungeschriebene Pflicht der jeweils jungen Generation verstanden wird, die Proteste fortzuführen. Zu tief sitzt die Angst vor der Brutalität des Regimes und persönlichen Repressalien, die oftmals auch die Familienmitglieder von Inhaftierten einschließen. Der immer fortschreitende Ausbau des staatlichen Sicherheits- und Überwachungsapparats wirkt als zusätzliches gesellschaftliches Korsett. Wurde bei den Protesten 2009 noch das gesamte Internet abgeschaltet, ist das Regime nun in der Lage, ausgewählte Apps nicht nur durchgängig wirkungsvoll zu blockieren, sondern bestimmte Dienste (etwa Taxiapps) selbst während der allabendlichen Abschaltung des Internets weiterlaufen zu lassen. Und Frauen, deren Kopftuch beim Autoverfahren nicht konform sitzt, erhalten stellenweise direkt eine warnende SMS und müssen bei der Moralpolizei vorstellig werden.

Ausblick

Fiel es bereits vor Ort im Iran aufgrund der Einschränkungen schwer, den Umfang, Organisationsgrad und die Konsequenzen der Proteste einzuschätzen, so gestaltet sich dies von Deutschland aus noch schwieriger. Fest steht, dass die Dauer der Unruhen und der Mut der jungen Generation die Zivilgesellschaft und vermutlich auch das Regime überrascht. Am 26. Oktober 2022, dem 40. Tag nach der Beerdigung Mahsa Aminis, einem für Schiit*innen wichtigen Trauertag, nahmen, trotz Warnungen der Behörden an die Familie, wohl mehrere tausend Menschen an der Trauerfeier in der kurdischen Stadt Saqqez teil. Die Mitschnitte der zwecks Umgehung der Straßensperren durch die Wüste pilgernden Menschenmenge werden wohl in den Kanon der symbolträchtigen Bilder dieses Protestes eingehen. Viele Iraner*innen waren Mitte September von einer eher ein- bis zweiwöchigen Protestdauer ausgegangen, dennoch scheint nach dem „Vierzigsten“(Chehelom) Mahsa Aminis die Zahl der Protestierenden wieder zu steigen. Dass eine Widerstandsbewegung, die bislang ohne eine öffentlich auftretende Führungsperson auskommt und dezentral agiert, nach über 40 Tagen weiterhin an Wucht gewinnt, ist ein bedeutendes Novum dieser Proteste. Die Legitimität des Regimes ist damit deutlich infrage gestellt worden. Ob sich jedoch aus den Protesten eine Revolution entwickelt, wie sie bereits in den sozialen Netzwerken betitelt wird, ist offen.