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"Entschieden wurde diese Abstimmung in den Armenvierteln"

Entsetzen, Fassungslosigkeit, geradezu körperlich spürbarer Schmerz: Auch gut zwei Wochen nach der Volksabstimmung vom 4. September über den Entwurf für eine neue chilenische Verfassung ringen Claudia Vera und José Horacio Wood von der Kinderrechtsorganisation ANIDE in Santiago immer noch um Worte: „Wir hatten uns darauf vorbereitet, dass es knapp werden könnte, aber dass am Ende nur 38,14 Prozent der Abstimmenden diesen für Chile so dringend notwendigen neuen politischen Rahmen unterstützen würden, damit haben wir nicht gerechnet,“ sagt José Horacio Wood.

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"Apruebo"-Veranstaltung auf der Plaza Ñuñoa. Die gleichnamige Kommune war eine von nur acht Stadtgemeinden, in denen es am 04.09. eine Mehrheit für den Verfassungsentwurf gab. Foto: Ximena Galleguillos

Bei vielen sozial engagierten Organisationen und Menschenrechtsinitiativen begann bereits in der Nacht vom 4. auf den 5. September die Suche nach Erklärungen für den Ausgang des Plebiszits, der das Land im Südwesten wohl auf lange Zeit weiter an den vom Militärregime unter Pinochet 1980 oktroyierten Verfassungsrahmen und seine auch im internationalen Vergleich besonders extreme neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ketten wird.

 

iz3w: Die Nachrichtensender hier in Europa zeigten in den Tagen vor dem Volksentscheid Bilder von Hunderttausenden, die im Zentrum Santiagos begeistert an der Abschlussveranstaltung der Apruebo-Kampagne teilnahmen und sehr viel Zuversicht ausstrahlten. Zu der letzten Kundgebung der Gegner des Verfassungsentwurfs kamen hingegen nur wenige. Wie passt das zu dem Ergebnis an den Wahlurnen?

Claudia Vera: Wir waren ebenfalls auf dieser Kundgebung auf der Alameda, der Hauptstraße Santiagos, wie alle voller Hoffnung, voller Optimismus. Aber irgendwie spürte ich in den Tagen vor der Abstimmung, bei Gesprächen auf der Straße, auf dem Wochenmarkt, dass viele ausweichend reagierten, wenn ich mit ihnen über den Vorschlag für eine neue Verfassung sprechen wollte. Im Nachhinein ist uns klar: Die Stimmung im Land war längst gekippt.

José Horacio Wood: Was besonders schmerzt, ist nicht, dass die Reichen und Wohlhabenden, die Leute aus der oberen Mittelschicht, also diejenigen, die politisch immer schon Parteien aus dem rechten und extrem rechten Lager unterstützt haben, gegen den Verfassungsentwurf votierten. Das war von vornherein klar. Entschieden wurde diese Volksabstimmung in den Armenvierteln und in den ländlichen Regionen mit großen Armutsproblemen. Demoskopische Untersuchungen zeigen ganz klar: Je geringer das Einkommen, je niedriger der Bildungsstand, umso höher der Nein-Stimmenanteil.

Warum ist es nicht gelungen, diejenigen zu überzeugen, die von einem neuen Grundgesetz und dem Ende der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung am meisten profitiert hätten?

JHW: Eine wichtige Erklärung liefert der verheerende Zustand unseres öffentlichen Bildungssystems. Am Ende ihrer Schulzeit fehlt bei Millionen junger Menschen jegliches Grundlagenwissen über das politische System, in dem sie leben, zur Zeitgeschichte, zum Verstehen elementarster wirtschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge. Mittlerweile fast fünf Jahrzehnte Marktradikalismus und neoliberaler Zurückbau der Rolle des Staats haben hier ganze Arbeit geleistet. Nicht von ungefähr verschulden sich Familien aus der unteren Mittelschicht mit Wahnsinnssummen, um ihren Kindern den Besuch eines privaten Kindergartens, einer privaten Grund- und Sekundarschule und danach einer privaten Uni zu ermöglichen.

CV: Dass der Entwurf für eine neue Verfassung Bildungsgerechtigkeit, eine Stärkung des öffentlichen Schul- oder auch des Gesundheitssystems versprach, hat Viele nicht überzeugt: Öffentliche Schulen, öffentliche Krankenhäuser stehen für schlechte Qualität, private für angeblich bessere Bedingungen, für motivierteres Personal. Der seit den Pinochet-Jahren wie ein schleichend wirkendes Gift in die Gehirne eingeträufelte zynische Satz: „Jeder ist für sich allein seines Glückes Schmied“ (spanisch: „Cada uno se rasga con sus propias uñas“) hat am 4. September auf verhängnisvolle Weise gewirkt.

 

»Lügen wirken! Das ist bei Trump oder Bolsonaro nicht anders als hier in Chile. «

 

Bei einem genaueren Blick auf die Abstimmungsergebnisse fällt auf, dass im Ausland, wo Chilen*innen in den Botschaften und Konsulaten abstimmen konnten, teilweise überwältigend hohe Zustimmungswerte für die neue Verfassung erreicht wurden. Wie wurde das in Chile kommentiert?

JHW: Die Gegner*innen der neuen Verfassung behaupten, dass die im Ausland lebenden Chilen*innen keine Ahnung von dem ganzen Prozess gehabt hätten. Aber das Gegenteil ist der Fall: Überall dort, wo Menschen nicht durch Fake News und Angstkampagnen eingeschüchtert wurden und sich wirklich mit dem Inhalt des vorgeschlagenen Textes beschäftigten konnten, waren die Zustimmungsraten hoch.

Letztlich können wir sagen: Die 38,14 Prozent der Abstimmenden, die diese neue Verfassung wollten, kommen überwiegend aus den traditionellen urbanen Mittelschichten, der sozial, kulturell und politisch engagierten Zivilgesellschaft, dem Teil unserer Gesellschaft, der sich den Menschenrechten, der Verantwortung für die Umwelt, den Idealen von Gerechtigkeit und Solidarität – oder wie wir, den Kinderrechten – verpflichtet fühlt und dem die Rechte indigener Menschen und der Queeren Community wichtig sind.

Aber das Plebiszit, bei dem erstmals wieder Wahlpflicht herrschte, zeigte, dass 61,86 Prozent der Abstimmenden keine derart zeitgemäße und dem Sozialstaatsgedanken verpflichtete Verfassung wollen. Warum war die Rechazo-Kampagne so erfolgreich?

CV: In einem Land, in dem es keinen einzigen Fernsehsender und keine einzige Tageszeitung gibt, die nicht einer der reichsten Familien Chiles gehört, wo praktisch der gesamte kommerzielle Radiomarkt von ganz wenigen Medienunternehmen kontrolliert wird, gab es so gut wie kein Durchkommen für Argumente befürwortender Stimmen. Wenn ich morgens mit vier anderen Passagieren im taxi colectivo (Sammeltaxi) bis zur Metrostation fuhr, wurde ich unablässig mit Radio-Spots der Rechazo-Kampagne bombardiert. Die andere Seite kam einfach nicht zu Wort.

JHW: Was die Apruebo-Kampagne so geschwächt hat, war, dass unablässig irrwitzige Fake News und immer dreistere Lügen dementiert werden mussten. Die hanebüchensten waren etwa die Behauptung, dass durch die neue Verfassung Abtreibungen bis eine Woche vor der Geburt des Kindes möglich, die chilenische Flagge und die Nationalhymne abgeschafft und Sonderrechte für Angehörige des Mapuche-Volkes – etwa bei Verkehrsunfällen mit Nicht-Mapuche – geschaffen würden. Und dann natürlich die Nummer mit der angeblich drohenden Enteignung von Familien, die sich ein kleines Häuschen oder eine Wohnung zusammengespart hatten. Noch absurder fand ich die Behauptung, dass wegen des Tierwohlgedankens im Verfassungsentwurf den Menschen im äußersten Norden oder in Patagonien ihre Schaf- und Ziegenherden weggenommen werden sollten. Natürlich steht nichts davon tatsächlich in dem Verfassungsentwurf. Aber heute müssen wir sagen: Lügen wirken! Das ist bei Trump oder Bolsonaro nicht anders als hier in Chile.

Wie kann es jetzt weitergehen? Welche Perspektiven und Hoffnungen gibt es für die knapp 40 Prozent der Stimmberechtigten in Chile, die sich für eine neue Verfassung und damit eine neue Gesellschaftsordnung ausgesprochen haben?

CV: Zunächst müssen wir realistisch und selbstkritisch anerkennen, dass wir mit unseren Argumenten Millionen Menschen nicht erreicht haben. Aber zu einer nüchternen Lageeinschätzung gehört auch, dass die rechten und extrem rechten Parteien in den beiden Kammern des Kongresses nach diesem Abstimmungsausgang keinerlei Interesse daran haben, an der Pinochet-Verfassung von 1980, die dann während der Regierungszeit von Ricardo Lagos (2000 – 2006) einige kosmetische Veränderungen erfuhr, irgendetwas zu ändern. Die Hoffnung von Präsident Gabriel Boric, hier doch noch einen alternativen Verfassungsänderungsprozess in Gang bringen zu können, teilen wir – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – nicht.

JHW: Zu diesem Realismus gehört auch, dass wir uns eingestehen müssen, dass auf die Menschen in Chile, die nicht zu den Wohlhabenden und Reichen gehören, extrem harte Zeiten zukommen werden. Schon jetzt ächzt das Land unter einer Inflation von rund 15 Prozent. Und der Klimawandel, der in Chile besonders dramatische Folgen zeigt, wird sich durch den brutalen Raubbau an der Natur und das Fehlen jeglichen Gedankens von Nachhaltigkeit im Wirtschafts- und Finanzsystem weiter beschleunigen. Vor uns liegt – im wahrsten Sinne des Wortes – eine lange Durststrecke.

 

Das Interview führte und übersetzte Jürgen Schübelin.