Verfassungsprozess in Chile | „Wir müssen mit den Menschen reden, reden, reden“
Protest gegen Gewalt an Frauen in Chile. Die Neue Verfassung stärkt die Rechte der Betroffenen und erleichter die Verfolgung und Bestrafung der Straftäter. Foto: Jürgen Schübelin
Noch nie haben sich so viele Menschen an der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs beteiligt wie zuletzt in Chile: Zunächst in Hunderten von Bürgerversammlungen, den Cabildos, auf Stadtteil- und Dorfebene. Dann bei der Mobilisierung für die Wahlen der 154 Mitglieder des Verfassungskonvents – und schließlich durch unzählige Vorschläge für einzelne Verfassungsartikel, eingebracht in Form von Bürgerbegehren in die Convención Constitucional, den Verfassungskonvent. Nun liegt der Entwurf für das neue Grundgesetz vor, mit 388 Artikeln auf 178 Seiten sicherlich eines der umfangreichsten Magna Carta-Dokumente weltweit. Am 4. September werden die Wahlberechtigten in einem Plebiszit über Annahme oder Ablehnung entscheiden.
iz3w: Im November 2020 hatten fast 80 Prozent aller Wahlberechtigten dafür plädiert, die aufoktroyierte Pinochet-Verfassung von 1980 abzulösen. Zugleich votierten sie für die Erarbeitung eines neuen Grundgesetzes. Wenige Tage danach habt ihr gesagt: „Jetzt erwartet uns der steilste Teil des Weges“. Hättet ihr Euch vorstellen können, wie steil diese Strecke tatsächlich werden würde?
José Horacio Wood: Demokratie ist immer anstrengend! Und ja, wir wussten, mit welch harten Bandagen diese Auseinandersetzung geführt werden wird. Aber dieser ganze Prozess seit Oktober 2019, dem Beginn des Estallido Social, der Massenproteste gegen das neoliberale Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, mit 34 Todesopfern und Tausenden von Verletzten, war immer auch eine Antwort auf die tiefe Krise der Demokratie im Nach-Pinochet-Chile: Wir wussten, unsere Probleme können wir nur mit mehr – nicht mit weniger – Demokratie und Teilhabe lösen!
Claudia Vera: In der Geschichte dieses Land hat es noch nie eine vergleichbare Erfahrung von Beteiligung und demokratischer Mitgestaltung gegeben. Und noch nie ein zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern besetztes Gremium wie diesen Verfassungskonvent, in dem endlich auch die indigenen Völker Chiles angemessen vertreten waren. Dazu Menschen aus den sozialen Bewegungen, die für Menschenrechte, Klima, Umwelt oder die Rechte sexueller Minderheiten stritten. Nicht zu vergessen, auch die Rolle von Kolleginnen und Kollegen aus Nichtregierungsorganisationen, die als Delegierte in die Convención Constitucional gewählt wurden und denen wir die starke Präsenz so wichtiger Themen wie Kinderrechte oder Rechte älterer Menschen zu verdanken haben.
Wie erklärt Ihr Euch den Shitstorm, den unglaublichen Hass, aber auch die Häme, die diesem Verfassungsentwurf entgegenschlägt, sei es in den Sozialen Medien, in Fernsehdiskussionen oder in den großen Tageszeitungen – auch schon bevor der Entwurfstext am 4. Juli vorgestellt wurde?
José Horacio Wood: Ganz einfach: Es geht hier darum, dass dieser Vorschlag für die zukünftige Verfassung Chiles der Leitidee eines demokratisch funktionierenden sozialen Rechtsstaats folgt. Das stellt die Macht einer kleinen Minderheit infrage. Wir dürften nicht vergessen, dass Chile weltweit eines der Länder mit den extremsten Einkommensunterschieden ist. Diese Elite hat es noch nie in der Geschichte unseres Landes akzeptiert, materielle Macht und Privilegien abzutreten. Vielmehr hat sie ihre Interessen immer durchgesetzt oder durchzusetzen versucht. Notfalls mit Gewalt, wie bei dem Militärputsch vom 11. September 1973, oder mit Fake News- und Diffamierungskampagnen wie bei der letzten Präsidentschaftswahl im Dezember 2021.
Claudia Vera: Uns fällt auf, dass diejenigen, die gegen diesen Verfassungsentwurf agitieren, nie sagen, womit sie inhaltlich Probleme haben, welche Teile des Textes aus ihrer Sicht überarbeitet werden müssten. Stattdessen sind unendlich viele abstruse Lügen im Umlauf. Da ist zum Beispiel die hanebüchene Behauptung, dass die neue Verfassung Schwangerschaftsabbrüche bis zum neunten Monat zulässt. Es kursieren irgendwelche Wortfetzen, die völlig aus dem Kontext gerissen sind. Wie soll auf dieser Grundlage ein Dialog, eine inhaltliche Auseinandersetzung möglich sein? Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass den Menschen nicht vermittelt wird, dass eine Verfassung kein Gesetzbuch ist, sondern den politischen Rahmen für die Arbeit der Legislative, also für gesetzgeberische Prozesse vorgibt.
» Perder el Miedo! Verlier die Angst! «
Aber wie kann es sein, dass nach den derzeitigen Umfrageergebnissen offenbar eine Mehrheit der Menschen in Chile bereit ist, Fake News mehr Glauben zu schenken als dem, was sie selbst lesen und nachschauen können?
José Horacio Wood: Es gibt leider zu viele Leute, die einem Social Media-Post oder einer tendenziösen Schlagzeile mehr Glauben schenken als den Fakten. Weltweit sind es wohl immer die gleichen Grundmuster des Populismus und der Demagogie. Hinzu kommt, dass viele Menschen unter permanentem Stress stehen, um die Alltagsbelastung zu bewältigen: Irrsinnig gestiegene Preise, soziale Abstürze während der beiden Pandemiejahre und Angst vor der gewachsenen Kriminalität. Da ist es leicht, ein Klima des Terrors zu schüren, mit der Behauptung, dass in Zukunft die ‚Indios‘ – also die Menschen aus dem Mapuche-Volk – die Macht übernehmen werden. Es ist leicht, Angst zu erzeugen und gegen die Verfassungsidee eines plurinationalen Staates zu polemisieren. Dabei gibt es auf der ganzen Welt zahlreiche plurinationale Gesellschaften, die das auch so in ihren Verfassungen verankert haben: Zum Beispiel Belgien, Spanien, Kanada und Bolivien.
Die Technik, medial ein Klima der Angst zu schüren und auf diese Weise Wahlen und Abstimmungen zu beeinflussen, hat in diesem Land eine traurige Tradition: Das war im Oktober 1988, als Pinochet mit einem Plebiszit seine Amtszeit um zehn Jahre verlängern wollte, nicht anders – aber auch bei den Wahlen mit Michelle Bachelet oder Gabriel Boric als Kandidaten.
Es fällt auf, dass es einige wenige Themen gibt, gegen die von den Gegner*innen des Verfassungsentwurfs nicht agitiert wird. Dazu gehören die Kinderrechte. Gehen sie einfach in der derzeitigen Auseinandersetzung unter oder werden als nicht wichtig wahrgenommen?
Claudia Vera: Nein, das glaube ich nicht. Hier wirken die Schockwellen nach, die entsetzlichen Nachrichten über die 1.836 Kinder und Jugendlichen ausgelöst haben, die in den zurückliegenden 15 Jahren in Heimen des staatlichen Kinder- und Jugenddienstes SENAME ums Leben kamen. Außerdem ist vielen Menschen bewusst, dass wir in diesem Land ein heftiges Problem rund um familiäre und sexualisierte Gewalt gegen Kinder haben. Während der ersten zwei Jahre mit Corona hat sich das noch einmal zugespitzt. Zumindest an diesem Punkt gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, so kann es nicht weitergehen.
Trotzdem ist es für ANIDE, die zu Kindesschutz und Kinderrechten arbeitende Organisation, ungeheuer befriedigend zu sehen, wie ambitioniert dieser Artikel 26 im Verfassungsentwurf über die Kinderrechte ausgestaltet wurde: Alle drei Säulen aus der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 – Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte – sollen jetzt in Chile Verfassungsrang erhalten. Und Kinderrechte werden nicht einfach unter Menschenrechten subsummiert, sondern sie spielen als eigenes Verfassungsanliegen eine Rolle. Außerdem stärkt der Entwurf die Rolle der Ombudsstelle für die Rechte von Kindern. Und: Junge Menschen sollen in Chile ab 16 Jahren das aktive Wahlrecht erhalten!
Wie werden für euch und für diejenigen, die sich aktiv für eine Annahme dieses Verfassungsentwurfs einsetzen, die verbleibenden Wochen bis zum 4. September aussehen?
Claudia Vera: Wir müssen mit den Menschen reden, reden, reden! Die Rechte, die die neue Verfassung sichern soll – also Bildung, Wohnung, Arbeit – müssen erklärt werden, wir gehen von Tür zu Tür, von Viertel zu Viertel. Sämtliche Fernsehsender und alle Zeitungen in diesem Land befinden sich in den Händen der konservativsten Sektoren dieser Gesellschaft. Nirgendwo wird erläutert, was in dem Verfassungsentwurf steht. Es gibt keine Programme zur staatsbürgerlichen Bildung wie in Europa. Unsere einzige Chance ist, die Menschen in Cabildos zu erreichen – Stadtteilversammlungen, großen und kleinen Treffen, an der Haustür, wo auch immer – oder eben über das Internet.
Jose Horacio Wood: Die zentrale Aufforderung der Apruebo-(Zustimmungs)-Kampagne lautet: Perder el Miedo! Verlier die Angst! Die Behauptung, dass, wer für diese Verfassung stimmt, Chile in das nächste Venezuela, Kuba oder Nicaragua verwandelt, verfängt leider immer noch. Deshalb ist es so entscheidend, dass die Menschen den Text des Verfassungsentwurfs wirklich kennen und sich am 4. September informiert und frei von Angst entscheiden. Was helfen wird, ist, dass die Teilnahme an diesem Plebiszit verpflichtend ist. Nur vom Spielfeldrand aus zuschauen geht nicht!
Das Interview führte und übersetzte Jürgen Schübelin.
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