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„Bis zum Abgrund fehlte nur ein winziger Schritt“

Interview mit Flávia Silva über die Wahl in Brasilien. Nach dem hauchdünnen Wahlsieg des Sozialdemokraten Luiz Inácio Lula da Silva (50,9 Prozent) über Amtsinhaber Jair Bolsonaro (49,1 Prozent) bedarf es nach Silva gigantischer Anstrengungen, um das demokratische Terrain zurückzugewinnen. Die Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin arbeitet seit 15 Jahren im Regionalbüro der Kindernothilfe für den brasilianischen Nordosten mit Sitz in Recife.

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Demonstrierende bei der Aktion "Kunst für Demokratie". Die Aktion fand am 30. September in der Innenstadt von São Paulo statt, um gegen die Angriffe der Regierung Bolsonaro auf Kultur und Kunst zu protestieren | Foto: Oliver Kornblihtt / Mídia NINJA CC BY NC 2.0


Jürgen Schübelin: Warum war dieses Rennen um die Präsidentschaft auf den letzten Metern so eng? Wie konnte es Bolsonaro, der zeitweise laut Umfragen der unpopulärste Präsident Brasiliens aller Zeiten war, gelingen, derart aufzuholen?

Flávia Silva: Es gab eine Allianz aus Militär, Polizei, Agroindustrie, erzkonservativen Teilen der Ober- und Mittelschicht, Medienimperien und vor allem der evangelikalen Kirchen. Diese Allianz funktionierte schon bei der ersten Wahl Bolsonaros 2018. Sie hat es geschafft, ein extrem aufgeheiztes, vergiftetes Klima im Land zu erzeugen, gegen das es mit Empirie und Fakten so gut wie kein Durchkommen gab. Bolsonaros Wahlslogan Deus, pátria e família (Gott, Vaterland und Familie) war eine bewusst gewählte Anleihe aus dem historischen Faschismus, mit einem autoritären Menschen- und Gesellschaftsbild, das aber offenbar genau in unsere Zeit maximaler Verunsicherung und sich überlappender globaler Krisen passte. Vor allem große Teile der Pfingstkirchen und die Strategie Bolsonaros, sich als der Messias gegen den angeblichen Anti-Christen Lula zu inszenieren, gaben den Ausschlag für diese erfolgreiche Mobilisierung. Unter der Flut von Fake News, die für diesen Wahlkampf erfunden wurden, war keine Lüge so erfolgreich wie die, dass Lula im Falle seines Siegs die Kirchen schließen lassen würde.

 

Besonders befremdlich wirkt, dass in vielen Favelas ebenfalls eine Mehrheit für Bolsonaro und ihn unterstützende Kandidat*innen gestimmt hat. Warum votierten ausgerechnet die Menschen, die am meisten unter der neoliberalen Agenda der bisherigen Regierung gelitten haben, für eine Fortsetzung dieser Politik?

Gerade in den Favelas sind die evangelikalen Kirchen extrem stark. Sie schließen die Lücken, die durch den Rückzug öffentlicher Institutionen, durch das Austrocknen engagierter Sozialprogramme, kurz durch die Idee vom ‚schlanken Staat‘ gerissen wurden. Hinzu kommt der katastrophale Zustand des öffentlichen Schul- und Gesundheitssystems und die traumatischen täglichen Gewalterfahrungen, etwa das Gefühl, schwer bewaffneten Banden schutzlos ausgeliefert zu sein. Selbst die Exzesse der Polícia Militar bei ihren Operationen in Favelas, bei denen regelmäßig auch völlig Unbeteiligte getötet werden, befördern das Gefühl, dass ein Ex-Militär wie Bolsonaro, der sich als ‚harter Hund‘ inszeniert, genau der Richtige ist. Und weil die Pastoren für ihn beten, die Fernsehprogramme der großen Pfingstkirchen rund um die Uhr laufen, sonstige Informationen nur noch über einschlägige Social Media-Kanäle konsumiert werden, war das Abstimmungsergebnis dann das, was wir am 30. Oktober erlebt haben.

 

Warum hat denn nicht einmal die entsetzliche Erfahrung der Corona-Pandemie und den 700.000 Todesopfern, von denen überproportional viele aus den Armenvierteln kamen, zu einem Umdenken geführt? Von der Weltgesundheitsorganisation wurde die systematische Verharmlosung von Covid-19 und die Befeuerung der Impfskepsis durch die Bolsonaro-Regierung als eine Ursache für das Ausmaß der Katastrophe in Brasilien benannt.

Alles, was mit Wissenschaft und Fakten – etwa auch zum Thema Klima und Umwelt – zu tun hat, wurde in den zurückliegenden vier Jahren von Bolsonaro und seinen Anhänger*innen systematisch diffamiert. In Brasilia schaffte die Regierung das Wissenschafts- und Kulturministerium einfach ab. In diesem Land gab es noch nie Probleme, Kleinkinder gegen Pocken und andere gefährliche Erkrankungen durch Immunisierung zu schützen. Zum ersten Mal erlebten wir nun Anti-Impfkampagnen. Und plötzlich gibt es wieder Infektionserkrankungen bei Kindern, die jahrzehntelang nicht vorkamen. Auch hier spielen evangelikale Kirchen eine verhängnisvolle Rolle. Ihre Pastoren erklären: „Nur Gott wird uns retten!“ Besonders infam finde ich die Aussage: „Wer an Corona starb, hat Gott einfach nicht genug um Hilfe gebeten.“ Aber das passt alles in das gesellschaftliche Bild vom Individuum, das ganz allein seines Glückes Schmied ist – und von einem Staat, der sich nicht in die Familien einzumischen hat. Es bedrückt mich, wie verantwortungslos hier mit dem Leben und der Gesundheit von Millionen Kindern gespielt wird. Das gilt auch für die Gleichgültigkeit der Behörden gerade gegenüber der zunehmenden sexualisierten Gewalt gegen Kinder innerhalb der Familie während der Pandemiezeit.

 

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Foto: Oliver Kornblihtt / Mídia NINJA CC BY NC 2.0

 

Am Wahltag machten verstörende Fernsehbilder die Runde, in denen die Verkehrspolizei Busse mit Menschen auf dem Weg in die Wahllokale an der Weiterfahrt hinderte. Was hat es damit auf sich?

Das ist ein Puzzleteil in einem viel größeren Bild: Bolsonaro hat unter Verletzung der brasilianischen Verfassung und der Bundesgesetze den Staatsapparat mit seinen verschiedenen Polizeiorganisationen und Institutionen, aber auch öffentliche Gelder – etwa aus dem Sozialfonds Auxílio Brasil – für seine Kampagne genutzt. Es ging darum, Lula bei jenen Wählergruppen zu schwächen, die traditionell für die Arbeiterpartei (PT) stimmen, zum Beispiel die Bevölkerungsmehrheit im Nordosten oder Menschen aus noch nicht von Bolsonaros Parteigänger*innen kontrollierten Armenvierteln. Und ja, die Polícia Rodoviária Federal errichtete auf Geheiß aus Bolsonaros Umfeld am Wahltag in Regionen mit hohen PT-Anteilen Straßenblockaden und hinderte die Menschen so an der Abstimmung. Diese Praxis hat in Lateinamerika leider traurige Tradition.

 

Trotz alledem hat am 30. Oktober eine Mehrheit gegen Bolsonaro und für Lula gestimmt. Aus dem Umfeld Bolsonaros – und auch von ihm selbst – folgten nach tagelangem Schweigen erste Signale, den verfassungsgemäßen Regierungswechsel am 1. Januar zu akzeptieren. Was erwarten die Kinderrechtsorganisationen in Brasilien für die kommenden Monate?

Wir sind uns bewusst, dass für den Sturz in den Abgrund – in Gestalt eines weiteren Mandats für die Bolsonaro-Administration – nur ein winziger Schritt fehlte. Die Menschen, die für Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Schutz der Menschenrechte und der Umwelt eintreten, sind massiv in die Defensive geraten. Für Lula haben sich die Menschen mit besserer Bildung, die Studierenden, Intellektuellen, künstlerisch Schaffenden, sowie die Engagierten in den sozialen Organisationen, Umwelt- und Indigenen-Bewegungen und Gewerkschaften eingesetzt – aber auch Gläubige aus nicht-evangelikalen und nicht-charismatischen Kirchen. Für die brasilianischen Kinderrechtsorganisationen war immer klar, was auf dem Spiel stand: Ich erinnere daran, die Bolsonaro-Anhänger*innen im Wahlkampf propagierten, straffällig gewordene Jugendliche ab 16 Jahren in Erwachsenen-Haftanstalten einzusperren. Das Team der Kindernothilfe-Partnerorganisation CEDECA Ceará hat hier mit einer Kampagne gegengehalten. Ein weiterer sensibler Bereich sind die Rechte von Jugendlichen mit einer queeren Identität. Die Bolsonaro-Jahre zeigten, wie lebensgefährlich das Schüren des Hasses auf LTBIQ-Personen ist – und wie sehr sich dieses Thema für Agitation eignet. Noch ein Aspekt ist mir wichtig: Der verantwortungslose staatliche Umgang mit Corona-Pandemie, die Rückkehr des Hungers und die sozialen Abstürze von Millionen brasilianischer Familien haben das Vertrauen der Menschen in die eigenen und gemeinschaftlich-solidarischen Fähigkeiten enorm geschwächt. Das spielte dem Rechts-Bündnis in die Hände. Hier Wiederaufbauarbeit zu leisten, sehe ich als eine Riesenherausforderung auch für uns Nicht-Regierungsorganisationen an.

 

Wie könnten die Kinderrechtsorganisationen in Brasilien diese Herausforderungen angehen?

Die Teams unserer Partnerorganisationen sagen uns, dass wir den Gesprächskontakt zu Familien aus dem Projektumfeld, die für Bolsonaro gestimmt haben, nicht abreißen lassen dürfen. Es geht darum, zu erreichen, dass die Kinder und Jugendlichen aus diesen Familien weiter an den Programmen teilnehmen. Nur so ist es möglich, die traumatischen Konfrontations- und Gewalterfahrungen, die die Kinder während der langen Monate dieses brutalen Wahlkampfes erlebt haben, zu bearbeiten – und ein gewaltfreies Miteinander neu einzuüben. Wir als Kindernothilfe-Team bereiten außerdem eine Kooperation im Bundesstaat Tocantins, der eine Hochburg des Bolsonarismus ist, vor. Dort gibt es extrem wenige Organisationen, die sich zum Thema Kinderrechte engagieren. Deshalb ist es strategisch besonders wichtig, hier zivilgesellschaftliche Anstrengungen zu stärken.

 

Was erwarten brasilianische Nichtregierungsorganisationen von ihren Verbündeten in Europa?

Ihr müsst als internationale Stimme lauter vernehmbar sein! Wir brauchen dringend mehr Aufmerksamkeit aus Europa –nicht nur zu Wahlzeiten. Wir werden die Sozial-, Familien-, Bildungs- und Kindesschutz-Politik der am 1. Januar startenden Lula-Regierung professionell und kritisch begleiten müssen. In den zurückliegenden Jahren haben wir erlebt, wie entscheidend Anstrengungen zur Einflussnahme unserer Partner*innen sind, aber auch, wie überlebenswichtig der Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen ist. Dafür bedarf es Unterstützungsmittel, engagierter Spender*innen – und ein vernetztes Vorgehen über den Atlantik hinweg.

 

Das Interview führte und übersetzte Jürgen Schübelin.